Werther: ich setze hinzu, "und lieben sich zu verschiedenen Stunden." Und, und, und: es geht nicht. Schönes Lokal, und ungestandene Liebe, und uneigennützige Freundschaft, das geht; weil es steht: geht's, so geht's über seine Schranke: denn noch ist die Welt ein Chaos, und alles rinnt unterein- ander. Soll ich noch mehr sagen? Sie wissen es eben so gut; und es wäre doch nur Variationen auf das tiefe, große, alte Thema: unsern Erdenaufenthalt; den wir nur im Geiste rich- tig machen können; dadurch, daß wir sehen, daß er nicht richtig ist, und sich auf großes Richtiges beziehn muß: denn wie kämen wir zu diesem ewigen Bedürfniß dazu? Also, recht gründlich innig freute ich mich, als ich hörte, Sie seien ab- gefahren: und auch nicht einen einzigen Moment war es mir eingefallen, daß Sie hätten Abschied von mir nehmen sollen: ich dankte Gott, je geschwinder Sie wegkommen konn- ten!!! Denn, konnte ich Sie nicht während der ganzen Dauer des großen Übels -- ich nenne nie den Krankheitsnamen -- wie ich mich bei mir habe, aufnehmen, hüten, pflegen: so will ich Sie nur in Ihrem Hause, bei Mama wissen. Wie gerne ich Sie aber eine Zeit lang hintereinander gesehn hätte, werden Sie mir gewiß nicht glauben; weil ein Winkel in mir Ihnen unbekannt ist. Zwanzigmal wollt' ich diesen Som- mer eine Zeit lang zu Ihnen: war es ganz gewiß zu thun; von Zehdenik aus. Aber nirgends kam ich hin: so hatte mich die Influenza darnieder gebracht: gleich nachher die große Furcht: und nun das Übel selbst. Ich wollte Sie bei Ihnen überreden, eine Reise mit mir zu machen: ich sollte allein rei- sen. Alles nichts! Aber sagen will ich's Ihnen doch, damit
Werther: ich ſetze hinzu, „und lieben ſich zu verſchiedenen Stunden.“ Und, und, und: es geht nicht. Schönes Lokal, und ungeſtandene Liebe, und uneigennützige Freundſchaft, das geht; weil es ſteht: geht’s, ſo geht’s über ſeine Schranke: denn noch iſt die Welt ein Chaos, und alles rinnt unterein- ander. Soll ich noch mehr ſagen? Sie wiſſen es eben ſo gut; und es wäre doch nur Variationen auf das tiefe, große, alte Thema: unſern Erdenaufenthalt; den wir nur im Geiſte rich- tig machen können; dadurch, daß wir ſehen, daß er nicht richtig iſt, und ſich auf großes Richtiges beziehn muß: denn wie kämen wir zu dieſem ewigen Bedürfniß dazu? Alſo, recht gründlich innig freute ich mich, als ich hörte, Sie ſeien ab- gefahren: und auch nicht einen einzigen Moment war es mir eingefallen, daß Sie hätten Abſchied von mir nehmen ſollen: ich dankte Gott, je geſchwinder Sie wegkommen konn- ten!!! Denn, konnte ich Sie nicht während der ganzen Dauer des großen Übels — ich nenne nie den Krankheitsnamen — wie ich mich bei mir habe, aufnehmen, hüten, pflegen: ſo will ich Sie nur in Ihrem Hauſe, bei Mama wiſſen. Wie gerne ich Sie aber eine Zeit lang hintereinander geſehn hätte, werden Sie mir gewiß nicht glauben; weil ein Winkel in mir Ihnen unbekannt iſt. Zwanzigmal wollt’ ich dieſen Som- mer eine Zeit lang zu Ihnen: war es ganz gewiß zu thun; von Zehdenik aus. Aber nirgends kam ich hin: ſo hatte mich die Influenza darnieder gebracht: gleich nachher die große Furcht: und nun das Übel ſelbſt. Ich wollte Sie bei Ihnen überreden, eine Reiſe mit mir zu machen: ich ſollte allein rei- ſen. Alles nichts! Aber ſagen will ich’s Ihnen doch, damit
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Werther: ich ſetze hinzu, „und lieben ſich zu verſchiedenen
Stunden.“ Und, und, und: es geht nicht. Schönes Lokal,
und ungeſtandene Liebe, und uneigennützige Freundſchaft, das
geht; weil es ſteht: geht’s, ſo geht’s über ſeine Schranke:
denn noch iſt die Welt ein Chaos, und alles rinnt unterein-
ander. Soll ich noch mehr ſagen? Sie wiſſen es eben ſo gut;
und es wäre doch nur Variationen auf das tiefe, große, alte
Thema: unſern Erdenaufenthalt; den wir nur im Geiſte rich-
tig machen können; dadurch, daß wir ſehen, daß er nicht
richtig iſt, und ſich auf großes Richtiges beziehn muß: denn
wie kämen wir zu dieſem ewigen Bedürfniß dazu? Alſo, recht
gründlich innig freute ich mich, als ich hörte, Sie ſeien ab-
gefahren: und auch nicht einen einzigen Moment war es
mir eingefallen, daß Sie hätten Abſchied von mir nehmen
ſollen: ich dankte Gott, je geſchwinder Sie wegkommen konn-
ten!!! Denn, konnte ich Sie nicht während der ganzen Dauer
des großen Übels — ich nenne nie den Krankheitsnamen —
wie ich mich bei mir habe, aufnehmen, hüten, pflegen: ſo will
ich Sie nur in Ihrem Hauſe, bei Mama wiſſen. Wie
gerne ich Sie aber eine Zeit lang hintereinander geſehn hätte,
werden Sie mir gewiß nicht glauben; weil ein Winkel in
mir Ihnen unbekannt iſt. Zwanzigmal wollt’ ich dieſen Som-
mer eine Zeit lang zu Ihnen: war es ganz gewiß zu thun;
von Zehdenik aus. Aber nirgends kam ich hin: ſo hatte mich
die Influenza darnieder gebracht: gleich nachher die große
Furcht: und nun das Übel ſelbſt. Ich wollte Sie bei Ihnen
überreden, eine Reiſe mit mir zu machen: ich ſollte allein rei-
ſen. Alles nichts! Aber ſagen will ich’s Ihnen doch, damit
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 527. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/535>, abgerufen am 25.11.2024.
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