Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

Weh dem, der mit seinen Einsichten und Gedanken dem
Allgemeinen vor ist! Für den kann dies Allgemeine nichts
thun: für den wird das nie ein gutes Schicksal. Wie wohl
für den, welcher gleich mit ihm steht, oder gar nach! --

Der Denkende, in Wahrheit Erwägende erhält ein anderes
Glück, muß es wo anders her sich schaffen; nicht durch ein
Allgemeines, Vorhandenes. Aber sein Glück selbst ist etwas
Allgemeines; nämlich auf das Höchste sich Beziehendes, von
diesem Gespendetes, und darum generell in der Anwendung.
Hauptsächlich besteht dies Glück der Forscher und Erwäger
darin, daß sie einer ganzen Art von Unglück enthoben wer-
den: die Erde nicht als etwas Vereinzeltes anzusehn brauchen;
und deren Leben und Empfinden mit -- wenn auch unbe-
kannter -- Vergangenheit und Zukunft sich in Zusammenhang
vorstellen können: heißt eigentlich, als ein Ganzes. Und die
größten Momente des Lebens sind die, wo es auch so empfun-
den wird. Solche Momente müssen sich gewiß bis zum hei-
ligsten Dasein, dem unantastbaren, immer gleich hohen, stei-
gern! --



Beschränkt zu sein, das ist nicht genug; wenn wir uns
nicht beschränkt machen können. In Ermanglung deß aber,
ist sich beschränkt wissen schon ein großer Besitz. Abends dank'
ich Gott, daß ich nicht mehr Arges, Verwirrtes weiß, und
für jedes bischen Kinderunschuld; die kein Defizit einsehn,
nach allem wie nach einem Ganzen greifen, und es glücklich
so sehen und zum Genuß gebrauchen kann. -- Höhere Ge-

schöpfe,

Weh dem, der mit ſeinen Einſichten und Gedanken dem
Allgemeinen vor iſt! Für den kann dies Allgemeine nichts
thun: für den wird das nie ein gutes Schickſal. Wie wohl
für den, welcher gleich mit ihm ſteht, oder gar nach! —

Der Denkende, in Wahrheit Erwägende erhält ein anderes
Glück, muß es wo anders her ſich ſchaffen; nicht durch ein
Allgemeines, Vorhandenes. Aber ſein Glück ſelbſt iſt etwas
Allgemeines; nämlich auf das Höchſte ſich Beziehendes, von
dieſem Geſpendetes, und darum generell in der Anwendung.
Hauptſächlich beſteht dies Glück der Forſcher und Erwäger
darin, daß ſie einer ganzen Art von Unglück enthoben wer-
den: die Erde nicht als etwas Vereinzeltes anzuſehn brauchen;
und deren Leben und Empfinden mit — wenn auch unbe-
kannter — Vergangenheit und Zukunft ſich in Zuſammenhang
vorſtellen können: heißt eigentlich, als ein Ganzes. Und die
größten Momente des Lebens ſind die, wo es auch ſo empfun-
den wird. Solche Momente müſſen ſich gewiß bis zum hei-
ligſten Daſein, dem unantaſtbaren, immer gleich hohen, ſtei-
gern! —



Beſchränkt zu ſein, das iſt nicht genug; wenn wir uns
nicht beſchränkt machen können. In Ermanglung deß aber,
iſt ſich beſchränkt wiſſen ſchon ein großer Beſitz. Abends dank’
ich Gott, daß ich nicht mehr Arges, Verwirrtes weiß, und
für jedes bischen Kinderunſchuld; die kein Defizit einſehn,
nach allem wie nach einem Ganzen greifen, und es glücklich
ſo ſehen und zum Genuß gebrauchen kann. — Höhere Ge-

ſchöpfe,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0504" n="496"/>
          <div n="3">
            <p>Weh dem, der mit &#x017F;einen Ein&#x017F;ichten und Gedanken dem<lb/>
Allgemeinen vor i&#x017F;t! Für den kann dies Allgemeine nichts<lb/>
thun: für den wird das nie ein gutes Schick&#x017F;al. Wie wohl<lb/>
für den, welcher gleich mit ihm &#x017F;teht, oder gar nach! &#x2014;</p><lb/>
            <p>Der Denkende, in Wahrheit Erwägende erhält ein anderes<lb/>
Glück, muß es wo anders her &#x017F;ich &#x017F;chaffen; nicht durch ein<lb/>
Allgemeines, Vorhandenes. Aber &#x017F;ein Glück &#x017F;elb&#x017F;t i&#x017F;t etwas<lb/>
Allgemeines; nämlich auf das Höch&#x017F;te &#x017F;ich Beziehendes, von<lb/>
die&#x017F;em Ge&#x017F;pendetes, und darum generell in der Anwendung.<lb/>
Haupt&#x017F;ächlich be&#x017F;teht dies Glück der For&#x017F;cher und Erwäger<lb/>
darin, daß &#x017F;ie einer ganzen Art von Unglück enthoben wer-<lb/>
den: die Erde nicht als etwas Vereinzeltes anzu&#x017F;ehn brauchen;<lb/>
und deren Leben und Empfinden mit &#x2014; wenn auch unbe-<lb/>
kannter &#x2014; Vergangenheit und Zukunft &#x017F;ich in Zu&#x017F;ammenhang<lb/>
vor&#x017F;tellen können: heißt eigentlich, als ein Ganzes. Und die<lb/>
größten Momente des Lebens &#x017F;ind die, wo es auch &#x017F;o empfun-<lb/>
den wird. Solche Momente mü&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich gewiß bis zum hei-<lb/>
lig&#x017F;ten Da&#x017F;ein, dem unanta&#x017F;tbaren, immer gleich hohen, &#x017F;tei-<lb/>
gern! &#x2014;</p>
            <dateline> <hi rendition="#et">Stiller Freitag, 1831.</hi> </dateline>
          </div><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <div n="3">
            <p>Be&#x017F;chränkt zu &#x017F;ein, das i&#x017F;t nicht genug; wenn wir uns<lb/>
nicht be&#x017F;chränkt machen können. In Ermanglung deß aber,<lb/>
i&#x017F;t &#x017F;ich be&#x017F;chränkt wi&#x017F;&#x017F;en &#x017F;chon ein großer Be&#x017F;itz. Abends dank&#x2019;<lb/>
ich Gott, daß ich nicht mehr Arges, Verwirrtes weiß, und<lb/>
für jedes bischen Kinderun&#x017F;chuld; die kein Defizit ein&#x017F;ehn,<lb/>
nach allem wie nach einem Ganzen greifen, und es glücklich<lb/>
&#x017F;o &#x017F;ehen und zum Genuß gebrauchen kann. &#x2014; Höhere Ge-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;chöpfe,</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[496/0504] Weh dem, der mit ſeinen Einſichten und Gedanken dem Allgemeinen vor iſt! Für den kann dies Allgemeine nichts thun: für den wird das nie ein gutes Schickſal. Wie wohl für den, welcher gleich mit ihm ſteht, oder gar nach! — Der Denkende, in Wahrheit Erwägende erhält ein anderes Glück, muß es wo anders her ſich ſchaffen; nicht durch ein Allgemeines, Vorhandenes. Aber ſein Glück ſelbſt iſt etwas Allgemeines; nämlich auf das Höchſte ſich Beziehendes, von dieſem Geſpendetes, und darum generell in der Anwendung. Hauptſächlich beſteht dies Glück der Forſcher und Erwäger darin, daß ſie einer ganzen Art von Unglück enthoben wer- den: die Erde nicht als etwas Vereinzeltes anzuſehn brauchen; und deren Leben und Empfinden mit — wenn auch unbe- kannter — Vergangenheit und Zukunft ſich in Zuſammenhang vorſtellen können: heißt eigentlich, als ein Ganzes. Und die größten Momente des Lebens ſind die, wo es auch ſo empfun- den wird. Solche Momente müſſen ſich gewiß bis zum hei- ligſten Daſein, dem unantaſtbaren, immer gleich hohen, ſtei- gern! — Stiller Freitag, 1831. Beſchränkt zu ſein, das iſt nicht genug; wenn wir uns nicht beſchränkt machen können. In Ermanglung deß aber, iſt ſich beſchränkt wiſſen ſchon ein großer Beſitz. Abends dank’ ich Gott, daß ich nicht mehr Arges, Verwirrtes weiß, und für jedes bischen Kinderunſchuld; die kein Defizit einſehn, nach allem wie nach einem Ganzen greifen, und es glücklich ſo ſehen und zum Genuß gebrauchen kann. — Höhere Ge- ſchöpfe,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/504
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 496. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/504>, abgerufen am 26.11.2024.