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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

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kommen. Wir mußten es durchmachen. Wie überhaupt
Menschengeister lernen. Mit eigener Mühe; dabei fängt die
große Mitgift, Persönlichkeit an. Dies ist für mich "der
Gedanke aller Gedanken, die Menschwerdung Gottes;" die
Gnade, uns eine Person werden zu lassen, und in dieser
Gnade find' ich auch gleich ihren eigenen Grund; sie enthält
ihre Bedingung in sich selbst. -- Den Urgeist beurtheile ich
nur nach meiner Mitgift von ihm, im Verhältniß von mir
zu ihm: nicht ungemessen, ungebührlich, was er sein kann.
Der Gedanke Sein schwindet mir sogar bei solchen Möglich-
keiten. Wie ein Adjektiv komme ich mir vor. --

-- Sie glauben gar nicht, was ich alles untereinander
lese. Kennen Sie Madame Guion? Deren Leben las ich
vorigen Winter, und noch vieles von ihr. Die hat den me-
taphysischesten Kopf. Mit welcher Kraftmacht -- vigueur --
spekulirt, mahlt die in's Leere. Von dem großen Karakter
noch gar nicht zu sprechen. Sie werden gewiß laut lachen:
aber für mich ist sie ein Gegenstück zu Fichte'n. Beide lassen
Welt und Natur ganz ausfallen, und senden den starken
Geist in die Weite. Fichte verfolgt die Thätigkeit desselben
bis an die Gränze des Seins: die Guion schwingt sich neben
ihren Vater in die Werkstätte der Welt, wie die Bibel sie
erzählt. Mit einer Gemüthskraft, und einer Ergebung voll
Zutrauen, die mich sie mit Verwandschafts-Zärtlichkeit lieben
macht. Mir äußerst merkwürdig. Nur krankhaft; unsäglich
großartig aber. Darnach las ich Fenelon's und Bossuet's
Leben von Beausset. Fenelon lieb' ich: den muß jeder nach
seiner Art lieben. Bossuet zwingt sich selbst: warum sollte

kommen. Wir mußten es durchmachen. Wie überhaupt
Menſchengeiſter lernen. Mit eigener Mühe; dabei fängt die
große Mitgift, Perſönlichkeit an. Dies iſt für mich „der
Gedanke aller Gedanken, die Menſchwerdung Gottes;“ die
Gnade, uns eine Perſon werden zu laſſen, und in dieſer
Gnade find’ ich auch gleich ihren eigenen Grund; ſie enthält
ihre Bedingung in ſich ſelbſt. — Den Urgeiſt beurtheile ich
nur nach meiner Mitgift von ihm, im Verhältniß von mir
zu ihm: nicht ungemeſſen, ungebührlich, was er ſein kann.
Der Gedanke Sein ſchwindet mir ſogar bei ſolchen Möglich-
keiten. Wie ein Adjektiv komme ich mir vor. —

— Sie glauben gar nicht, was ich alles untereinander
leſe. Kennen Sie Madame Guion? Deren Leben las ich
vorigen Winter, und noch vieles von ihr. Die hat den me-
taphyſiſcheſten Kopf. Mit welcher Kraftmacht — vigueur
ſpekulirt, mahlt die in’s Leere. Von dem großen Karakter
noch gar nicht zu ſprechen. Sie werden gewiß laut lachen:
aber für mich iſt ſie ein Gegenſtück zu Fichte’n. Beide laſſen
Welt und Natur ganz ausfallen, und ſenden den ſtarken
Geiſt in die Weite. Fichte verfolgt die Thätigkeit deſſelben
bis an die Gränze des Seins: die Guion ſchwingt ſich neben
ihren Vater in die Werkſtätte der Welt, wie die Bibel ſie
erzählt. Mit einer Gemüthskraft, und einer Ergebung voll
Zutrauen, die mich ſie mit Verwandſchafts-Zärtlichkeit lieben
macht. Mir äußerſt merkwürdig. Nur krankhaft; unſäglich
großartig aber. Darnach las ich Fenelon’s und Boſſuet’s
Leben von Beauſſet. Fenelon lieb’ ich: den muß jeder nach
ſeiner Art lieben. Boſſuet zwingt ſich ſelbſt: warum ſollte

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[31/0039] kommen. Wir mußten es durchmachen. Wie überhaupt Menſchengeiſter lernen. Mit eigener Mühe; dabei fängt die große Mitgift, Perſönlichkeit an. Dies iſt für mich „der Gedanke aller Gedanken, die Menſchwerdung Gottes;“ die Gnade, uns eine Perſon werden zu laſſen, und in dieſer Gnade find’ ich auch gleich ihren eigenen Grund; ſie enthält ihre Bedingung in ſich ſelbſt. — Den Urgeiſt beurtheile ich nur nach meiner Mitgift von ihm, im Verhältniß von mir zu ihm: nicht ungemeſſen, ungebührlich, was er ſein kann. Der Gedanke Sein ſchwindet mir ſogar bei ſolchen Möglich- keiten. Wie ein Adjektiv komme ich mir vor. — — Sie glauben gar nicht, was ich alles untereinander leſe. Kennen Sie Madame Guion? Deren Leben las ich vorigen Winter, und noch vieles von ihr. Die hat den me- taphyſiſcheſten Kopf. Mit welcher Kraftmacht — vigueur — ſpekulirt, mahlt die in’s Leere. Von dem großen Karakter noch gar nicht zu ſprechen. Sie werden gewiß laut lachen: aber für mich iſt ſie ein Gegenſtück zu Fichte’n. Beide laſſen Welt und Natur ganz ausfallen, und ſenden den ſtarken Geiſt in die Weite. Fichte verfolgt die Thätigkeit deſſelben bis an die Gränze des Seins: die Guion ſchwingt ſich neben ihren Vater in die Werkſtätte der Welt, wie die Bibel ſie erzählt. Mit einer Gemüthskraft, und einer Ergebung voll Zutrauen, die mich ſie mit Verwandſchafts-Zärtlichkeit lieben macht. Mir äußerſt merkwürdig. Nur krankhaft; unſäglich großartig aber. Darnach las ich Fenelon’s und Boſſuet’s Leben von Beauſſet. Fenelon lieb’ ich: den muß jeder nach ſeiner Art lieben. Boſſuet zwingt ſich ſelbſt: warum ſollte

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/39>, abgerufen am 24.11.2024.