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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

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noch in seinen letzten Tagen ein Lächeln ab, als er mir Dank-
worte auf einen Zettel schrieb, und darin sagte: "Das Schick-
sal vergelte es Ihnen!" -- weil er "das Schicksal" sagte;
als ob der liebe Gott nicht klüger wäre, und nicht auch un-
ter diesem Namen seine Gebühr annähme! -- Ich rechne
Müllern seine einsichtsvolle Milde und sein hoffendes Ver-
trauen hoch an. --

Anmerkung. Dieser sehr mittheilenswerthe Brief lautet vollstän-
dig also:


"Hochverehrtesie Freundin! Empfangen Sie meinen herzlichen Dank
für Ihr freundliches Andenken an mich, bei dem Tode des Unglücklichen.
Diese Rechenexempel sind also abgeschlossen, diese Weissagungen verstum-
men; sonderbarerweise wurde der, der nach Wiesels Kalküls schon zur
Zeit des Kongresses zuerst zu Grunde gehen mußte, der Kaiser, grade
am Tage vor Wiesels Tode von einer wirklichen Todesgefahr gerettet.
Dennoch rührt mich dieser Fall sehr. Sie nennen sein Unglück seine
dicke Haut
, und es ist wahr, innerlich war viel Schönes und äußerlich
hat ihn viel Ausgezeichnetes berührt; doch hat beides nie zusammenkom-
men können. Dazu waren auch seine Augen zu scharf, kein geringes
Unglück für den, der sie hat. Farbe und Lichtton verschwanden; er sah
nur die Unterschiede und Umrisse der Dinge, und da war dann Rechnung
und Zahl bald zur Hand. -- Ich verliere viel an ihm; er ersetzte und
repräsentirte mir nicht nur die ganze liberale und demokratische Welt,
und überhob mich nicht nur der Mühe die Journäle und Bücher meines
Gegenpart zu lesen, sondern er trieb das alles auf die rechte deutsche
Höhe, bis zur Läugnung des persönlichen Gottes, zur Behauptung, daß
alles Unglück in der ganzen Weltgeschichte aus dem Glauben an eine
persönliche Offenbarung herrühre. Drei Stunden hindurch habe ich ihn
einmal über letztern Punkt auf meinem Zimmer mit wirklich teuflischer
Grazie und Sachkenntniß rasen hören. Und doch war in allem und un-
ter allem wieder lauter Selbstüberredung, schwaches Liebesbedürfniß,
Advokatie der Armen, Entbehrungs- und Aufopferungsfähigkeit, sieben-
monatliches Leben mit 80 Thalern und von bloßen selbstgefangenen Hech-
ten und Kartoffeln, und die Unfähigkeit nicht bloß zum Verrath seiner
Freunde, sondern selbst der verhaßtesten unter den Aristokraten, wenn

nicht

noch in ſeinen letzten Tagen ein Lächeln ab, als er mir Dank-
worte auf einen Zettel ſchrieb, und darin ſagte: „Das Schick-
ſal vergelte es Ihnen!“ — weil er „das Schickſal“ ſagte;
als ob der liebe Gott nicht klüger wäre, und nicht auch un-
ter dieſem Namen ſeine Gebühr annähme! — Ich rechne
Müllern ſeine einſichtsvolle Milde und ſein hoffendes Ver-
trauen hoch an. —

Anmerkung. Dieſer ſehr mittheilenswerthe Brief lautet vollſtän-
dig alſo:


„Hochverehrteſie Freundin! Empfangen Sie meinen herzlichen Dank
für Ihr freundliches Andenken an mich, bei dem Tode des Unglücklichen.
Dieſe Rechenexempel ſind alſo abgeſchloſſen, dieſe Weiſſagungen verſtum-
men; ſonderbarerweiſe wurde der, der nach Wieſels Kalküls ſchon zur
Zeit des Kongreſſes zuerſt zu Grunde gehen mußte, der Kaiſer, grade
am Tage vor Wieſels Tode von einer wirklichen Todesgefahr gerettet.
Dennoch rührt mich dieſer Fall ſehr. Sie nennen ſein Unglück ſeine
dicke Haut
, und es iſt wahr, innerlich war viel Schönes und äußerlich
hat ihn viel Ausgezeichnetes berührt; doch hat beides nie zuſammenkom-
men können. Dazu waren auch ſeine Augen zu ſcharf, kein geringes
Unglück für den, der ſie hat. Farbe und Lichtton verſchwanden; er ſah
nur die Unterſchiede und Umriſſe der Dinge, und da war dann Rechnung
und Zahl bald zur Hand. — Ich verliere viel an ihm; er erſetzte und
repräſentirte mir nicht nur die ganze liberale und demokratiſche Welt,
und überhob mich nicht nur der Mühe die Journäle und Bücher meines
Gegenpart zu leſen, ſondern er trieb das alles auf die rechte deutſche
Höhe, bis zur Läugnung des perſönlichen Gottes, zur Behauptung, daß
alles Unglück in der ganzen Weltgeſchichte aus dem Glauben an eine
perſönliche Offenbarung herrühre. Drei Stunden hindurch habe ich ihn
einmal über letztern Punkt auf meinem Zimmer mit wirklich teufliſcher
Grazie und Sachkenntniß raſen hören. Und doch war in allem und un-
ter allem wieder lauter Selbſtüberredung, ſchwaches Liebesbedürfniß,
Advokatie der Armen, Entbehrungs- und Aufopferungsfähigkeit, ſieben-
monatliches Leben mit 80 Thalern und von bloßen ſelbſtgefangenen Hech-
ten und Kartoffeln, und die Unfähigkeit nicht bloß zum Verrath ſeiner
Freunde, ſondern ſelbſt der verhaßteſten unter den Ariſtokraten, wenn

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[240/0248] noch in ſeinen letzten Tagen ein Lächeln ab, als er mir Dank- worte auf einen Zettel ſchrieb, und darin ſagte: „Das Schick- ſal vergelte es Ihnen!“ — weil er „das Schickſal“ ſagte; als ob der liebe Gott nicht klüger wäre, und nicht auch un- ter dieſem Namen ſeine Gebühr annähme! — Ich rechne Müllern ſeine einſichtsvolle Milde und ſein hoffendes Ver- trauen hoch an. — Anmerkung. Dieſer ſehr mittheilenswerthe Brief lautet vollſtän- dig alſo: Leipzig, den 31. März 1826. „Hochverehrteſie Freundin! Empfangen Sie meinen herzlichen Dank für Ihr freundliches Andenken an mich, bei dem Tode des Unglücklichen. Dieſe Rechenexempel ſind alſo abgeſchloſſen, dieſe Weiſſagungen verſtum- men; ſonderbarerweiſe wurde der, der nach Wieſels Kalküls ſchon zur Zeit des Kongreſſes zuerſt zu Grunde gehen mußte, der Kaiſer, grade am Tage vor Wieſels Tode von einer wirklichen Todesgefahr gerettet. Dennoch rührt mich dieſer Fall ſehr. Sie nennen ſein Unglück ſeine dicke Haut, und es iſt wahr, innerlich war viel Schönes und äußerlich hat ihn viel Ausgezeichnetes berührt; doch hat beides nie zuſammenkom- men können. Dazu waren auch ſeine Augen zu ſcharf, kein geringes Unglück für den, der ſie hat. Farbe und Lichtton verſchwanden; er ſah nur die Unterſchiede und Umriſſe der Dinge, und da war dann Rechnung und Zahl bald zur Hand. — Ich verliere viel an ihm; er erſetzte und repräſentirte mir nicht nur die ganze liberale und demokratiſche Welt, und überhob mich nicht nur der Mühe die Journäle und Bücher meines Gegenpart zu leſen, ſondern er trieb das alles auf die rechte deutſche Höhe, bis zur Läugnung des perſönlichen Gottes, zur Behauptung, daß alles Unglück in der ganzen Weltgeſchichte aus dem Glauben an eine perſönliche Offenbarung herrühre. Drei Stunden hindurch habe ich ihn einmal über letztern Punkt auf meinem Zimmer mit wirklich teufliſcher Grazie und Sachkenntniß raſen hören. Und doch war in allem und un- ter allem wieder lauter Selbſtüberredung, ſchwaches Liebesbedürfniß, Advokatie der Armen, Entbehrungs- und Aufopferungsfähigkeit, ſieben- monatliches Leben mit 80 Thalern und von bloßen ſelbſtgefangenen Hech- ten und Kartoffeln, und die Unfähigkeit nicht bloß zum Verrath ſeiner Freunde, ſondern ſelbſt der verhaßteſten unter den Ariſtokraten, wenn nicht

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/248>, abgerufen am 25.11.2024.