Urtheile! Ihr ganzes vergebungsvolles Gemüth beseelt und durchdringt diese Bildsäulchen von Urtheilen; und das ist Wasser, was meine Herzensmühle brauchen kann! Diesen schönen Zustand einer Seele find' ich so selten, ob er gleich der natürlichste in ihrem Gesundheitszustande ist, und immer vorhanden sein sollte, daß er mich entzückt, wo ich ihn Ein- mal sehe, und befreit, von ewiger und -- wehe! -- bei- nah schon bewußtloser Pein. Eben so selten wird diese Ge- sundheit einer lieben Seele anerkannt; und darum thue ich es hiermit laut; und, bei besserer Überlegung, nicht zu laut. Vortrefflich ist Ihrer Feder Humboldt entfahren! und Eins hab' ich doch zu erinnren: "er ist gutmüthig," sagen Sie: er beträgt sich dabei gutmüthig, sag' ich. Ein Räthsel ist es mir, daß Benjamin Constant soll Wolf ähnlich sein; Wolf mit seiner Königsnase: und Benjamin erinnre ich mich mit einer kurzen Art von Stumpfnase? Können Nasen wach- sen nach dreißig Jahren? -- Grüßen Sie Hrn. Cousin freund- lichst von mir: sagen Sie ihm, daß es mich in die Seele freut, daß ihm Berlin wohlgefiel; dies für Berlin und mich: aber für ihn und von ihm freut es mich, seinen reinen Sinn -- bon esprit -- noch Einmal bewährt zu finden; der da sieht, was da ist: und nicht sich ein gepacktes Urtheil von Paris, nach dem Herzen Deutschlands zum Beispiel, mitbringt, und es unausgepackt und wohlverwahrt den Freunden nach Paris zurückbringt, wie sie's wünschen. Solcher Sinn und Geist voll Unbefangenheit, wie er hier zeigt, ist der, den alle Wissen- schaft braucht: und ich wünsche also seinen Freunden sowohl, als allen seinen Landsleuten Glück zu ihm. Die Wissenschaft
Urtheile! Ihr ganzes vergebungsvolles Gemüth beſeelt und durchdringt dieſe Bildſäulchen von Urtheilen; und das iſt Waſſer, was meine Herzensmühle brauchen kann! Dieſen ſchönen Zuſtand einer Seele find’ ich ſo ſelten, ob er gleich der natürlichſte in ihrem Geſundheitszuſtande iſt, und immer vorhanden ſein ſollte, daß er mich entzückt, wo ich ihn Ein- mal ſehe, und befreit, von ewiger und — wehe! — bei- nah ſchon bewußtloſer Pein. Eben ſo ſelten wird dieſe Ge- ſundheit einer lieben Seele anerkannt; und darum thue ich es hiermit laut; und, bei beſſerer Überlegung, nicht zu laut. Vortrefflich iſt Ihrer Feder Humboldt entfahren! und Eins hab’ ich doch zu erinnren: „er iſt gutmüthig,“ ſagen Sie: er beträgt ſich dabei gutmüthig, ſag’ ich. Ein Räthſel iſt es mir, daß Benjamin Conſtant ſoll Wolf ähnlich ſein; Wolf mit ſeiner Königsnaſe: und Benjamin erinnre ich mich mit einer kurzen Art von Stumpfnaſe? Können Naſen wach- ſen nach dreißig Jahren? — Grüßen Sie Hrn. Couſin freund- lichſt von mir: ſagen Sie ihm, daß es mich in die Seele freut, daß ihm Berlin wohlgefiel; dies für Berlin und mich: aber für ihn und von ihm freut es mich, ſeinen reinen Sinn — bon esprit — noch Einmal bewährt zu finden; der da ſieht, was da iſt: und nicht ſich ein gepacktes Urtheil von Paris, nach dem Herzen Deutſchlands zum Beiſpiel, mitbringt, und es unausgepackt und wohlverwahrt den Freunden nach Paris zurückbringt, wie ſie’s wünſchen. Solcher Sinn und Geiſt voll Unbefangenheit, wie er hier zeigt, iſt der, den alle Wiſſen- ſchaft braucht: und ich wünſche alſo ſeinen Freunden ſowohl, als allen ſeinen Landsleuten Glück zu ihm. Die Wiſſenſchaft
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durchdringt dieſe Bildſäulchen von Urtheilen; und das iſt
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ſchönen Zuſtand einer Seele find’ ich ſo ſelten, ob er gleich
der natürlichſte in ihrem Geſundheitszuſtande iſt, und immer
vorhanden ſein ſollte, daß er mich entzückt, wo ich ihn Ein-
mal ſehe, und befreit, von ewiger und — wehe! — bei-
nah ſchon bewußtloſer Pein. Eben ſo ſelten wird dieſe Ge-
ſundheit einer lieben Seele anerkannt; und darum thue ich
es hiermit laut; und, bei beſſerer Überlegung, nicht zu
laut. Vortrefflich iſt Ihrer Feder Humboldt entfahren! und
Eins hab’ ich doch zu erinnren: „er iſt gutmüthig,“ ſagen
Sie: er beträgt ſich dabei gutmüthig, ſag’ ich. Ein Räthſel
iſt es mir, daß Benjamin Conſtant ſoll Wolf ähnlich ſein;
Wolf mit ſeiner Königsnaſe: und Benjamin erinnre ich mich
mit einer kurzen Art von Stumpfnaſe? Können Naſen wach-
ſen nach dreißig Jahren? — Grüßen Sie Hrn. Couſin freund-
lichſt von mir: ſagen Sie ihm, daß es mich in die Seele freut,
daß ihm Berlin wohlgefiel; dies für Berlin und mich: aber
für ihn und von ihm freut es mich, ſeinen reinen Sinn —
bon esprit — noch Einmal bewährt zu finden; der da ſieht,
was da iſt: und nicht ſich ein gepacktes Urtheil von Paris,
nach dem Herzen Deutſchlands zum Beiſpiel, mitbringt, und
es unausgepackt und wohlverwahrt den Freunden nach Paris
zurückbringt, wie ſie’s wünſchen. Solcher Sinn und Geiſt
voll Unbefangenheit, wie er hier zeigt, iſt der, den alle Wiſſen-
ſchaft braucht: und ich wünſche alſo ſeinen Freunden ſowohl,
als allen ſeinen Landsleuten Glück zu ihm. Die Wiſſenſchaft
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/220>, abgerufen am 22.11.2024.
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