Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite
An Frau von Grotthuß, in Oranienburg.


Trübes, graues, nasses Herbstwetter; wärmliche, unbe-
stimmte Temperatur. Sehr schwarze Straßen.

Seit vorgestern, oder vielmehr vorvorgestern Abend, als
ich deinen Brief erhielt, theure Grotta, will ich dir antworten,
und -- ist's glaublich -- bin ich daran verhindert! Ein gro-
ßer Bestandtheil aller Verhinderung ist meine possirliche Ge-
sundheit. Mit kürzesten Worten: nicht zweimal die Woche
mehr -- so wechslen bizarre Übel, Krisen, Nerven- und
Rheuma-Tollheit in mir ab -- hab' ich drei- bis vier-
minutenweise ein Erinnerungsgefühl -- und gleich, und mir
alsdann nicht gleich erklärliche Munterkeit -- von Ge-
sundheitsgefühl! Auf Ehre und Gewissen, leider! buchstäblich
wahr! Das Abgeschmackteste ist aber, daß ich die Feder ohne
höchstes Echauffement nicht führen kann. Welches mich in
meinem ganzen geistigen Wirken und Treiben stört, meine
Korrespondenzen so gut wie aufhebt; alles, was ich sonst zu
Papier brächte, so gut wie getödtet hat; und schlimmstens,
das, was ich dennoch schreibe, komplet entstellt. Da ich nur
zu schreiben vermag, wenn eine gewisse Entzündung in mir
Statt hat, die Geist, Erinnerung, Kombination und Einfälle
hervorbringt, in Licht und Bewegung setzt; so stört ein kör-
perliches Hinderniß vollkommen diese ganze Operation; ich
habe keine fertige Gedankenpläne zur Ausarbeitung in mir
vorliegen: sondern Einfall, Anregung, Gedanke, Ausdruck, ist
alles eine und dieselbe Explosion und ein Fluß. Hab' ich

III. 12
An Frau von Grotthuß, in Oranienburg.


Trübes, graues, naſſes Herbſtwetter; wärmliche, unbe-
ſtimmte Temperatur. Sehr ſchwarze Straßen.

Seit vorgeſtern, oder vielmehr vorvorgeſtern Abend, als
ich deinen Brief erhielt, theure Grotta, will ich dir antworten,
und — iſt’s glaublich — bin ich daran verhindert! Ein gro-
ßer Beſtandtheil aller Verhinderung iſt meine poſſirliche Ge-
ſundheit. Mit kürzeſten Worten: nicht zweimal die Woche
mehr — ſo wechslen bizarre Übel, Kriſen, Nerven- und
Rheuma-Tollheit in mir ab — hab’ ich drei- bis vier-
minutenweiſe ein Erinnerungsgefühl — und gleich, und mir
alsdann nicht gleich erklärliche Munterkeit — von Ge-
ſundheitsgefühl! Auf Ehre und Gewiſſen, leider! buchſtäblich
wahr! Das Abgeſchmackteſte iſt aber, daß ich die Feder ohne
höchſtes Echauffement nicht führen kann. Welches mich in
meinem ganzen geiſtigen Wirken und Treiben ſtört, meine
Korreſpondenzen ſo gut wie aufhebt; alles, was ich ſonſt zu
Papier brächte, ſo gut wie getödtet hat; und ſchlimmſtens,
das, was ich dennoch ſchreibe, komplet entſtellt. Da ich nur
zu ſchreiben vermag, wenn eine gewiſſe Entzündung in mir
Statt hat, die Geiſt, Erinnerung, Kombination und Einfälle
hervorbringt, in Licht und Bewegung ſetzt; ſo ſtört ein kör-
perliches Hinderniß vollkommen dieſe ganze Operation; ich
habe keine fertige Gedankenpläne zur Ausarbeitung in mir
vorliegen: ſondern Einfall, Anregung, Gedanke, Ausdruck, iſt
alles eine und dieſelbe Exploſion und ein Fluß. Hab’ ich

III. 12
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0185" n="177"/>
        <div n="2">
          <head>An Frau von Grotthuß, in Oranienburg.</head><lb/>
          <dateline> <hi rendition="#et">Berlin, Mittwoch Vormittag 12 Uhr. December 1824.</hi> </dateline><lb/>
          <p> <hi rendition="#et">Trübes, graues, na&#x017F;&#x017F;es <hi rendition="#g">Herb&#x017F;tw</hi>etter; wärmliche, unbe-<lb/>
&#x017F;timmte Temperatur. Sehr &#x017F;chwarze Straßen.</hi> </p><lb/>
          <p>Seit vorge&#x017F;tern, oder vielmehr vorvorge&#x017F;tern Abend, als<lb/>
ich deinen Brief erhielt, theure Grotta, will ich dir antworten,<lb/>
und &#x2014; i&#x017F;t&#x2019;s glaublich &#x2014; bin ich daran verhindert! Ein gro-<lb/>
ßer Be&#x017F;tandtheil aller Verhinderung i&#x017F;t meine po&#x017F;&#x017F;irliche Ge-<lb/>
&#x017F;undheit. Mit kürze&#x017F;ten Worten: nicht zweimal die Woche<lb/>
mehr &#x2014; &#x017F;o wechslen bizarre Übel, Kri&#x017F;en, Nerven- und<lb/>
Rheuma-<hi rendition="#g">Tollh</hi>eit in mir ab &#x2014; hab&#x2019; ich drei- bis vier-<lb/>
minutenwei&#x017F;e ein Erinnerungsgefühl &#x2014; und gleich, und mir<lb/>
alsdann nicht gleich erklärliche <hi rendition="#g">Munterkeit</hi> &#x2014; von Ge-<lb/>
&#x017F;undheitsgefühl! Auf Ehre und Gewi&#x017F;&#x017F;en, leider! buch&#x017F;täblich<lb/>
wahr! Das Abge&#x017F;chmackte&#x017F;te i&#x017F;t aber, daß ich die Feder ohne<lb/>
höch&#x017F;tes Echauffement nicht führen kann. Welches mich in<lb/>
meinem ganzen gei&#x017F;tigen Wirken und Treiben &#x017F;tört, meine<lb/>
Korre&#x017F;pondenzen &#x017F;o gut wie aufhebt; alles, was ich &#x017F;on&#x017F;t zu<lb/>
Papier brächte, &#x017F;o gut wie getödtet hat; und &#x017F;chlimm&#x017F;tens,<lb/>
das, was ich dennoch &#x017F;chreibe, komplet ent&#x017F;tellt. Da ich nur<lb/>
zu &#x017F;chreiben vermag, wenn eine gewi&#x017F;&#x017F;e Entzündung in mir<lb/>
Statt hat, die Gei&#x017F;t, Erinnerung, Kombination und Einfälle<lb/>
hervorbringt, in Licht und Bewegung &#x017F;etzt; &#x017F;o &#x017F;tört ein kör-<lb/>
perliches Hinderniß vollkommen die&#x017F;e ganze Operation; ich<lb/>
habe keine fertige Gedankenpläne zur Ausarbeitung in mir<lb/>
vorliegen: &#x017F;ondern Einfall, Anregung, Gedanke, Ausdruck, i&#x017F;t<lb/>
alles eine und die&#x017F;elbe Explo&#x017F;ion und <hi rendition="#g">ein</hi> Fluß. Hab&#x2019; ich<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#aq">III.</hi> 12</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[177/0185] An Frau von Grotthuß, in Oranienburg. Berlin, Mittwoch Vormittag 12 Uhr. December 1824. Trübes, graues, naſſes Herbſtwetter; wärmliche, unbe- ſtimmte Temperatur. Sehr ſchwarze Straßen. Seit vorgeſtern, oder vielmehr vorvorgeſtern Abend, als ich deinen Brief erhielt, theure Grotta, will ich dir antworten, und — iſt’s glaublich — bin ich daran verhindert! Ein gro- ßer Beſtandtheil aller Verhinderung iſt meine poſſirliche Ge- ſundheit. Mit kürzeſten Worten: nicht zweimal die Woche mehr — ſo wechslen bizarre Übel, Kriſen, Nerven- und Rheuma-Tollheit in mir ab — hab’ ich drei- bis vier- minutenweiſe ein Erinnerungsgefühl — und gleich, und mir alsdann nicht gleich erklärliche Munterkeit — von Ge- ſundheitsgefühl! Auf Ehre und Gewiſſen, leider! buchſtäblich wahr! Das Abgeſchmackteſte iſt aber, daß ich die Feder ohne höchſtes Echauffement nicht führen kann. Welches mich in meinem ganzen geiſtigen Wirken und Treiben ſtört, meine Korreſpondenzen ſo gut wie aufhebt; alles, was ich ſonſt zu Papier brächte, ſo gut wie getödtet hat; und ſchlimmſtens, das, was ich dennoch ſchreibe, komplet entſtellt. Da ich nur zu ſchreiben vermag, wenn eine gewiſſe Entzündung in mir Statt hat, die Geiſt, Erinnerung, Kombination und Einfälle hervorbringt, in Licht und Bewegung ſetzt; ſo ſtört ein kör- perliches Hinderniß vollkommen dieſe ganze Operation; ich habe keine fertige Gedankenpläne zur Ausarbeitung in mir vorliegen: ſondern Einfall, Anregung, Gedanke, Ausdruck, iſt alles eine und dieſelbe Exploſion und ein Fluß. Hab’ ich III. 12

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/185
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/185>, abgerufen am 24.11.2024.