es wirklich zwei Personen sind, und nicht dieselbe: die zu ret- tende, und die feige, nicht helfende. -- Nur Bewußtsein über- haupt konstituirt Persönlichkeit, -- da wo der Feige nicht hilft, weiß er nicht, daß er Hülfe bedarf; wo ihm geholfen wird und er nur Noth fühlt, nicht, daß er nicht helfen würde. Es sind wirklich zwei verschiedene Wesen. Solcher ist in der That nicht so weit wie eine Person: es ist nur eine Kreatur. Und nun u. s. w.! --
Zu einem Talent gehört Karakter; Gemüths- und Gei- stesfertigkeiten, in Naturanlagen begründet, machen es nicht. Was hilft die reinste, klingendste Stimme, die beweglichste Kehle, das schnellfassendste Ohr, das beste Gedächtniß, die größte Nachahmungsgabe, wenn nicht eine einmalige tiefe persönliche Ansicht der Natur, eine solche Gemüthsstimmung mit ihren Varianten, ein helles, geistiges Auffassen hoher und tiefer Zustände der menschlichen Natur, die Seele und der Diktator dieser physisch materiellen Gaben wird? Diese eben genannten Gaben, noch so geübt und gut zusammengeübt, würden z. B. einen imitativen Sänger bilden, der bald in Eines, bald in eines Andern Manier vorzutragen suchen wird, bald wie eine Milder die Töne ziehen, bald wie die Catalani wirbeln und schreien wird, Italiänern ihr parlando, furioso, affannoso und ihre Komik nachmachen, und sogar den Fran- zosen etwas von dem gestörten Tonwesen ihrer Deklamation absehn wird. Ist dies ein Talent zu nennen? ein ausgebilde- tes? Dies sind ein paar Gaben, die, wie geschäftige Tischge- räthe, den Fremden oberflächlichen Beifall abschöpfen! Dies
es wirklich zwei Perſonen ſind, und nicht dieſelbe: die zu ret- tende, und die feige, nicht helfende. — Nur Bewußtſein über- haupt konſtituirt Perſönlichkeit, — da wo der Feige nicht hilft, weiß er nicht, daß er Hülfe bedarf; wo ihm geholfen wird und er nur Noth fühlt, nicht, daß er nicht helfen würde. Es ſind wirklich zwei verſchiedene Weſen. Solcher iſt in der That nicht ſo weit wie eine Perſon: es iſt nur eine Kreatur. Und nun u. ſ. w.! —
Zu einem Talent gehört Karakter; Gemüths- und Gei- ſtesfertigkeiten, in Naturanlagen begründet, machen es nicht. Was hilft die reinſte, klingendſte Stimme, die beweglichſte Kehle, das ſchnellfaſſendſte Ohr, das beſte Gedächtniß, die größte Nachahmungsgabe, wenn nicht eine einmalige tiefe perſönliche Anſicht der Natur, eine ſolche Gemüthsſtimmung mit ihren Varianten, ein helles, geiſtiges Auffaſſen hoher und tiefer Zuſtände der menſchlichen Natur, die Seele und der Diktator dieſer phyſiſch materiellen Gaben wird? Dieſe eben genannten Gaben, noch ſo geübt und gut zuſammengeübt, würden z. B. einen imitativen Sänger bilden, der bald in Eines, bald in eines Andern Manier vorzutragen ſuchen wird, bald wie eine Milder die Töne ziehen, bald wie die Catalani wirbeln und ſchreien wird, Italiänern ihr parlando, furioso, affannoso und ihre Komik nachmachen, und ſogar den Fran- zoſen etwas von dem geſtörten Tonweſen ihrer Deklamation abſehn wird. Iſt dies ein Talent zu nennen? ein ausgebilde- tes? Dies ſind ein paar Gaben, die, wie geſchäftige Tiſchge- räthe, den Fremden oberflächlichen Beifall abſchöpfen! Dies
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es wirklich zwei Perſonen ſind, und nicht dieſelbe: die zu ret-
tende, und die feige, nicht helfende. — Nur Bewußtſein über-
haupt konſtituirt Perſönlichkeit, — da wo der Feige nicht
hilft, weiß er nicht, daß er Hülfe bedarf; wo ihm geholfen
wird und er nur Noth fühlt, nicht, daß er nicht helfen würde.
Es ſind wirklich zwei verſchiedene Weſen. Solcher iſt in der
That nicht ſo weit wie eine Perſon: es iſt nur eine Kreatur.
Und nun u. ſ. w.! —
Zu einem Talent gehört Karakter; Gemüths- und Gei-
ſtesfertigkeiten, in Naturanlagen begründet, machen es nicht.
Was hilft die reinſte, klingendſte Stimme, die beweglichſte
Kehle, das ſchnellfaſſendſte Ohr, das beſte Gedächtniß, die
größte Nachahmungsgabe, wenn nicht eine einmalige tiefe
perſönliche Anſicht der Natur, eine ſolche Gemüthsſtimmung
mit ihren Varianten, ein helles, geiſtiges Auffaſſen hoher und
tiefer Zuſtände der menſchlichen Natur, die Seele und der
Diktator dieſer phyſiſch materiellen Gaben wird? Dieſe eben
genannten Gaben, noch ſo geübt und gut zuſammengeübt,
würden z. B. einen imitativen Sänger bilden, der bald in
Eines, bald in eines Andern Manier vorzutragen ſuchen wird,
bald wie eine Milder die Töne ziehen, bald wie die Catalani
wirbeln und ſchreien wird, Italiänern ihr parlando, furioso,
affannoso und ihre Komik nachmachen, und ſogar den Fran-
zoſen etwas von dem geſtörten Tonweſen ihrer Deklamation
abſehn wird. Iſt dies ein Talent zu nennen? ein ausgebilde-
tes? Dies ſind ein paar Gaben, die, wie geſchäftige Tiſchge-
räthe, den Fremden oberflächlichen Beifall abſchöpfen! Dies
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/170>, abgerufen am 25.11.2024.
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