bleiben, das weiß Gott: er kennt ja unser Wesen. Mad. Saussure beschreibt die Frau von Stael in ihrem Umgang so, daß ich große Ähnlichkeit zwischen ihr und mir finde: ganze Äußerungen, Wort vor Wort. Sie war gutmüthig, und haßte Affektation, oder vielmehr die ennuyirte sie zu Tod, und En- nui war ihr Ärgstes: dies ist auch mein Ärgstes, sonst verge- ben wir viel. Die armen Menschen, sag' ich immer -- pau- vre nature humaine, sagt sie. Aber wir sind sehr verschieden; sie hat daher Talent, und ich nicht: aber wenn ich auch Bü- cher machte, so schrieb' ich nicht. Ich sah aber gleich Anno 1804, daß sie eine gutmüthige natürliche Frau war: und sagte es auch. Sie vergriff sich sonst in Schätzung der sentiments; und das sah aus wie Affektation in ihren Büchern; so et- was that ich auch in der frühsten Jugend nicht. --
Sonntag, den 9. Januar 1820.
Wie irrt sich Frau von Stael über sich selbst, in ihren Briefen über Rousseau! Welche Anstrengung von verkehrter Vertheidigung, gegen ganz unwesentliche Angriffe einer ganz verirrten Ansicht, der Leidenschaft, der Pflicht, der Moral, des ganzen Lebens! Nicht ihre Ansicht, sondern der Abweg, die Lügenpfade der ganzen Franzosenwelt, das heißt der ganzen neuern. Frau von Stael liebt Rousseau'n, er ergreift sie, sagt ihr zu; aber sie fürchtet sich, ihre guten Freunde werden sie für unmoralisch halten, sie beschuldigen, dem Laster, der Leidenschaft das Wort zu reden. Sie hat weder Rousseau's Aussprüche in seinen Schriften, und durch sein Werk die neue Heloise, eine durch Gründe vorbereitete Denkungsart erfassen
bleiben, das weiß Gott: er kennt ja unſer Weſen. Mad. Sauſſure beſchreibt die Frau von Staël in ihrem Umgang ſo, daß ich große Ähnlichkeit zwiſchen ihr und mir finde: ganze Äußerungen, Wort vor Wort. Sie war gutmüthig, und haßte Affektation, oder vielmehr die ennuyirte ſie zu Tod, und En- nui war ihr Ärgſtes: dies iſt auch mein Ärgſtes, ſonſt verge- ben wir viel. Die armen Menſchen, ſag’ ich immer — pau- vre nature humaine, ſagt ſie. Aber wir ſind ſehr verſchieden; ſie hat daher Talent, und ich nicht: aber wenn ich auch Bü- cher machte, ſo ſchrieb’ ich nicht. Ich ſah aber gleich Anno 1804, daß ſie eine gutmüthige natürliche Frau war: und ſagte es auch. Sie vergriff ſich ſonſt in Schätzung der sentiments; und das ſah aus wie Affektation in ihren Büchern; ſo et- was that ich auch in der frühſten Jugend nicht. —
Sonntag, den 9. Januar 1820.
Wie irrt ſich Frau von Staël über ſich ſelbſt, in ihren Briefen über Rouſſeau! Welche Anſtrengung von verkehrter Vertheidigung, gegen ganz unweſentliche Angriffe einer ganz verirrten Anſicht, der Leidenſchaft, der Pflicht, der Moral, des ganzen Lebens! Nicht ihre Anſicht, ſondern der Abweg, die Lügenpfade der ganzen Franzoſenwelt, das heißt der ganzen neuern. Frau von Staël liebt Rouſſeau’n, er ergreift ſie, ſagt ihr zu; aber ſie fürchtet ſich, ihre guten Freunde werden ſie für unmoraliſch halten, ſie beſchuldigen, dem Laſter, der Leidenſchaft das Wort zu reden. Sie hat weder Rouſſeau’s Ausſprüche in ſeinen Schriften, und durch ſein Werk die neue Heloiſe, eine durch Gründe vorbereitete Denkungsart erfaſſen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0015"n="7"/>
bleiben, das <hirendition="#g">weiß</hi> Gott: er kennt ja unſer <hirendition="#g">Weſen</hi>. Mad.<lb/>
Sauſſure beſchreibt die Frau von Sta<hirendition="#aq">ë</hi>l in ihrem Umgang ſo,<lb/>
daß ich große Ähnlichkeit zwiſchen ihr und mir finde: ganze<lb/>
Äußerungen, Wort vor Wort. Sie war gutmüthig, und haßte<lb/>
Affektation, oder vielmehr die ennuyirte ſie zu Tod, und En-<lb/>
nui war ihr Ärgſtes: dies iſt auch mein Ärgſtes, ſonſt verge-<lb/>
ben wir viel. Die armen Menſchen, ſag’ ich immer —<hirendition="#aq">pau-<lb/>
vre nature humaine,</hi>ſagt ſie. Aber wir ſind ſehr verſchieden;<lb/>ſie hat daher Talent, und ich nicht: aber wenn ich auch Bü-<lb/>
cher machte, <hirendition="#g">ſo</hi>ſchrieb’ ich nicht. Ich ſah aber gleich Anno<lb/>
1804, daß ſie eine gutmüthige natürliche Frau war: und ſagte<lb/>
es auch. Sie vergriff ſich ſonſt in Schätzung der <hirendition="#aq">sentiments;</hi><lb/>
und das <hirendition="#g">ſah aus</hi> wie Affektation in ihren Büchern; ſo et-<lb/>
was that ich auch in der <hirendition="#g">frühſten</hi> Jugend nicht. —</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="3"><dateline><hirendition="#et">Sonntag, den 9. Januar 1820.</hi></dateline><lb/><p>Wie irrt ſich Frau von Sta<hirendition="#aq">ë</hi>l über ſich ſelbſt, in ihren<lb/>
Briefen über Rouſſeau! Welche Anſtrengung von verkehrter<lb/>
Vertheidigung, gegen ganz unweſentliche Angriffe einer ganz<lb/>
verirrten Anſicht, der Leidenſchaft, der Pflicht, der Moral, des<lb/>
ganzen Lebens! Nicht ihre Anſicht, ſondern der Abweg, die<lb/>
Lügenpfade der ganzen Franzoſenwelt, das heißt der ganzen<lb/>
neuern. Frau von Sta<hirendition="#aq">ë</hi>l liebt Rouſſeau’n, er ergreift ſie,<lb/>ſagt ihr zu; aber ſie fürchtet ſich, ihre guten Freunde werden<lb/>ſie für unmoraliſch halten, ſie beſchuldigen, dem Laſter, der<lb/>
Leidenſchaft das Wort zu reden. Sie hat weder Rouſſeau’s<lb/>
Ausſprüche in ſeinen Schriften, und durch ſein Werk die neue<lb/>
Heloiſe, eine durch Gründe vorbereitete Denkungsart erfaſſen<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[7/0015]
bleiben, das weiß Gott: er kennt ja unſer Weſen. Mad.
Sauſſure beſchreibt die Frau von Staël in ihrem Umgang ſo,
daß ich große Ähnlichkeit zwiſchen ihr und mir finde: ganze
Äußerungen, Wort vor Wort. Sie war gutmüthig, und haßte
Affektation, oder vielmehr die ennuyirte ſie zu Tod, und En-
nui war ihr Ärgſtes: dies iſt auch mein Ärgſtes, ſonſt verge-
ben wir viel. Die armen Menſchen, ſag’ ich immer — pau-
vre nature humaine, ſagt ſie. Aber wir ſind ſehr verſchieden;
ſie hat daher Talent, und ich nicht: aber wenn ich auch Bü-
cher machte, ſo ſchrieb’ ich nicht. Ich ſah aber gleich Anno
1804, daß ſie eine gutmüthige natürliche Frau war: und ſagte
es auch. Sie vergriff ſich ſonſt in Schätzung der sentiments;
und das ſah aus wie Affektation in ihren Büchern; ſo et-
was that ich auch in der frühſten Jugend nicht. —
Sonntag, den 9. Januar 1820.
Wie irrt ſich Frau von Staël über ſich ſelbſt, in ihren
Briefen über Rouſſeau! Welche Anſtrengung von verkehrter
Vertheidigung, gegen ganz unweſentliche Angriffe einer ganz
verirrten Anſicht, der Leidenſchaft, der Pflicht, der Moral, des
ganzen Lebens! Nicht ihre Anſicht, ſondern der Abweg, die
Lügenpfade der ganzen Franzoſenwelt, das heißt der ganzen
neuern. Frau von Staël liebt Rouſſeau’n, er ergreift ſie,
ſagt ihr zu; aber ſie fürchtet ſich, ihre guten Freunde werden
ſie für unmoraliſch halten, ſie beſchuldigen, dem Laſter, der
Leidenſchaft das Wort zu reden. Sie hat weder Rouſſeau’s
Ausſprüche in ſeinen Schriften, und durch ſein Werk die neue
Heloiſe, eine durch Gründe vorbereitete Denkungsart erfaſſen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/15>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.