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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

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bleiben, das weiß Gott: er kennt ja unser Wesen. Mad.
Saussure beschreibt die Frau von Stael in ihrem Umgang so,
daß ich große Ähnlichkeit zwischen ihr und mir finde: ganze
Äußerungen, Wort vor Wort. Sie war gutmüthig, und haßte
Affektation, oder vielmehr die ennuyirte sie zu Tod, und En-
nui war ihr Ärgstes: dies ist auch mein Ärgstes, sonst verge-
ben wir viel. Die armen Menschen, sag' ich immer -- pau-
vre nature humaine,
sagt sie. Aber wir sind sehr verschieden;
sie hat daher Talent, und ich nicht: aber wenn ich auch Bü-
cher machte, so schrieb' ich nicht. Ich sah aber gleich Anno
1804, daß sie eine gutmüthige natürliche Frau war: und sagte
es auch. Sie vergriff sich sonst in Schätzung der sentiments;
und das sah aus wie Affektation in ihren Büchern; so et-
was that ich auch in der frühsten Jugend nicht. --




Wie irrt sich Frau von Stael über sich selbst, in ihren
Briefen über Rousseau! Welche Anstrengung von verkehrter
Vertheidigung, gegen ganz unwesentliche Angriffe einer ganz
verirrten Ansicht, der Leidenschaft, der Pflicht, der Moral, des
ganzen Lebens! Nicht ihre Ansicht, sondern der Abweg, die
Lügenpfade der ganzen Franzosenwelt, das heißt der ganzen
neuern. Frau von Stael liebt Rousseau'n, er ergreift sie,
sagt ihr zu; aber sie fürchtet sich, ihre guten Freunde werden
sie für unmoralisch halten, sie beschuldigen, dem Laster, der
Leidenschaft das Wort zu reden. Sie hat weder Rousseau's
Aussprüche in seinen Schriften, und durch sein Werk die neue
Heloise, eine durch Gründe vorbereitete Denkungsart erfassen

bleiben, das weiß Gott: er kennt ja unſer Weſen. Mad.
Sauſſure beſchreibt die Frau von Staël in ihrem Umgang ſo,
daß ich große Ähnlichkeit zwiſchen ihr und mir finde: ganze
Äußerungen, Wort vor Wort. Sie war gutmüthig, und haßte
Affektation, oder vielmehr die ennuyirte ſie zu Tod, und En-
nui war ihr Ärgſtes: dies iſt auch mein Ärgſtes, ſonſt verge-
ben wir viel. Die armen Menſchen, ſag’ ich immer — pau-
vre nature humaine,
ſagt ſie. Aber wir ſind ſehr verſchieden;
ſie hat daher Talent, und ich nicht: aber wenn ich auch Bü-
cher machte, ſo ſchrieb’ ich nicht. Ich ſah aber gleich Anno
1804, daß ſie eine gutmüthige natürliche Frau war: und ſagte
es auch. Sie vergriff ſich ſonſt in Schätzung der sentiments;
und das ſah aus wie Affektation in ihren Büchern; ſo et-
was that ich auch in der frühſten Jugend nicht. —




Wie irrt ſich Frau von Staël über ſich ſelbſt, in ihren
Briefen über Rouſſeau! Welche Anſtrengung von verkehrter
Vertheidigung, gegen ganz unweſentliche Angriffe einer ganz
verirrten Anſicht, der Leidenſchaft, der Pflicht, der Moral, des
ganzen Lebens! Nicht ihre Anſicht, ſondern der Abweg, die
Lügenpfade der ganzen Franzoſenwelt, das heißt der ganzen
neuern. Frau von Staël liebt Rouſſeau’n, er ergreift ſie,
ſagt ihr zu; aber ſie fürchtet ſich, ihre guten Freunde werden
ſie für unmoraliſch halten, ſie beſchuldigen, dem Laſter, der
Leidenſchaft das Wort zu reden. Sie hat weder Rouſſeau’s
Ausſprüche in ſeinen Schriften, und durch ſein Werk die neue
Heloiſe, eine durch Gründe vorbereitete Denkungsart erfaſſen

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[7/0015] bleiben, das weiß Gott: er kennt ja unſer Weſen. Mad. Sauſſure beſchreibt die Frau von Staël in ihrem Umgang ſo, daß ich große Ähnlichkeit zwiſchen ihr und mir finde: ganze Äußerungen, Wort vor Wort. Sie war gutmüthig, und haßte Affektation, oder vielmehr die ennuyirte ſie zu Tod, und En- nui war ihr Ärgſtes: dies iſt auch mein Ärgſtes, ſonſt verge- ben wir viel. Die armen Menſchen, ſag’ ich immer — pau- vre nature humaine, ſagt ſie. Aber wir ſind ſehr verſchieden; ſie hat daher Talent, und ich nicht: aber wenn ich auch Bü- cher machte, ſo ſchrieb’ ich nicht. Ich ſah aber gleich Anno 1804, daß ſie eine gutmüthige natürliche Frau war: und ſagte es auch. Sie vergriff ſich ſonſt in Schätzung der sentiments; und das ſah aus wie Affektation in ihren Büchern; ſo et- was that ich auch in der frühſten Jugend nicht. — Sonntag, den 9. Januar 1820. Wie irrt ſich Frau von Staël über ſich ſelbſt, in ihren Briefen über Rouſſeau! Welche Anſtrengung von verkehrter Vertheidigung, gegen ganz unweſentliche Angriffe einer ganz verirrten Anſicht, der Leidenſchaft, der Pflicht, der Moral, des ganzen Lebens! Nicht ihre Anſicht, ſondern der Abweg, die Lügenpfade der ganzen Franzoſenwelt, das heißt der ganzen neuern. Frau von Staël liebt Rouſſeau’n, er ergreift ſie, ſagt ihr zu; aber ſie fürchtet ſich, ihre guten Freunde werden ſie für unmoraliſch halten, ſie beſchuldigen, dem Laſter, der Leidenſchaft das Wort zu reden. Sie hat weder Rouſſeau’s Ausſprüche in ſeinen Schriften, und durch ſein Werk die neue Heloiſe, eine durch Gründe vorbereitete Denkungsart erfaſſen

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/15>, abgerufen am 24.11.2024.