müssen. Voltaire's: "le vraisemblable n'arrive jamais." Aber ich sage es falsch; er hat es unendlich geistreicher ausgedrückt. Dennoch denk' ich wieder, Sie könnten noch ankommen: und bis Sie mir abschreiben, hoffe ich's von Zeit zu Zeit. Meine Schwester ist seit dem 29. Juli hier, und reist den 26. dieses. Ich war sehr beglückt sie hier zu sehen: und erzähle Ihnen den Rest wohl mündlich. Ein Rest bleibt immer. Was geht wohl grad' auf. Sagen ja Priester und Philosophen, man sei aus Irrthum und Fehltritt hier. Daß wir nur wenig und Schattenhaftes wissen, haben, thun, sehen, erfahren, muß je- der wahrnehmen, der sich nur im geringsten mit den Dingen mehr als zum gewöhnlichsten Gebrauch abgiebt. Alles was Sie mir von Ihrem Ort schreiben, sehe ich, wie die Herzogin von Parma in Brüssel König Philipps Hof und Kabinet so deutlich wie auf ihren Tapeten sah. "Kunst ist, das mit Ta- lent darstellen, was sein könnte, unserer besseren Einsicht nach. Also eigentlich gutes Naturgefühl; und Sinn für Wahrheit in der Ausübung. Dies wird wie geheime Kraft in Pflan- zen etc. immer walten, hervorbrechen, und auch herrschen: heißt, verwandten Sinn finden, und anregen. Dieser ist in der Masse der Leute zu sehr verbreitet, und hat wohl, als Theater, jetzt scheinbar großen Schutz von oben; braucht ihn aber um fort- zuleben nicht mehr." Horchen Sie also nach Ihrem eigenen Talent, und Ihrem Sinn für Ihre Kunst hin; arbeiten Sie nach dem: und Sie werden außen gefallen: nöthig und ge- sucht sein. Hätte ich ein Talent und wäre auf der Bühne, ich würde der entgegengesetzten Richtung und Regel der jetzi- gen Schule folgen. Ich würde mich bemühen, in verschieden-
müſſen. Voltaire’s: „le vraisemblable n’arrive jamais.” Aber ich ſage es falſch; er hat es unendlich geiſtreicher ausgedrückt. Dennoch denk’ ich wieder, Sie könnten noch ankommen: und bis Sie mir abſchreiben, hoffe ich’s von Zeit zu Zeit. Meine Schweſter iſt ſeit dem 29. Juli hier, und reiſt den 26. dieſes. Ich war ſehr beglückt ſie hier zu ſehen: und erzähle Ihnen den Reſt wohl mündlich. Ein Reſt bleibt immer. Was geht wohl grad’ auf. Sagen ja Prieſter und Philoſophen, man ſei aus Irrthum und Fehltritt hier. Daß wir nur wenig und Schattenhaftes wiſſen, haben, thun, ſehen, erfahren, muß je- der wahrnehmen, der ſich nur im geringſten mit den Dingen mehr als zum gewöhnlichſten Gebrauch abgiebt. Alles was Sie mir von Ihrem Ort ſchreiben, ſehe ich, wie die Herzogin von Parma in Brüſſel König Philipps Hof und Kabinet ſo deutlich wie auf ihren Tapeten ſah. „Kunſt iſt, das mit Ta- lent darſtellen, was ſein könnte, unſerer beſſeren Einſicht nach. Alſo eigentlich gutes Naturgefühl; und Sinn für Wahrheit in der Ausübung. Dies wird wie geheime Kraft in Pflan- zen ꝛc. immer walten, hervorbrechen, und auch herrſchen: heißt, verwandten Sinn finden, und anregen. Dieſer iſt in der Maſſe der Leute zu ſehr verbreitet, und hat wohl, als Theater, jetzt ſcheinbar großen Schutz von oben; braucht ihn aber um fort- zuleben nicht mehr.“ Horchen Sie alſo nach Ihrem eigenen Talent, und Ihrem Sinn für Ihre Kunſt hin; arbeiten Sie nach dem: und Sie werden außen gefallen: nöthig und ge- ſucht ſein. Hätte ich ein Talent und wäre auf der Bühne, ich würde der entgegengeſetzten Richtung und Regel der jetzi- gen Schule folgen. Ich würde mich bemühen, in verſchieden-
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müſſen. Voltaire’s: „le vraisemblable n’arrive jamais.” Aber
ich ſage es falſch; er hat es unendlich geiſtreicher ausgedrückt.
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bis Sie mir abſchreiben, hoffe ich’s von Zeit zu Zeit. Meine
Schweſter iſt ſeit dem 29. Juli hier, und reiſt den 26. dieſes.
Ich war ſehr beglückt ſie hier zu ſehen: und erzähle Ihnen
den Reſt wohl mündlich. Ein Reſt bleibt immer. Was geht
wohl grad’ auf. Sagen ja Prieſter und Philoſophen, man
ſei aus Irrthum und Fehltritt hier. Daß wir nur wenig und
Schattenhaftes wiſſen, haben, thun, ſehen, erfahren, muß je-
der wahrnehmen, der ſich nur im geringſten mit den Dingen
mehr als zum gewöhnlichſten Gebrauch abgiebt. Alles was
Sie mir von Ihrem Ort ſchreiben, ſehe ich, wie die Herzogin
von Parma in Brüſſel König Philipps Hof und Kabinet ſo
deutlich wie auf ihren Tapeten ſah. „Kunſt iſt, das mit Ta-
lent darſtellen, was ſein könnte, unſerer beſſeren Einſicht nach.
Alſo eigentlich gutes Naturgefühl; und Sinn für Wahrheit
in der Ausübung. Dies wird wie geheime Kraft in Pflan-
zen ꝛc. immer walten, hervorbrechen, und auch herrſchen: heißt,
verwandten Sinn finden, und anregen. Dieſer iſt in der Maſſe
der Leute zu ſehr verbreitet, und hat wohl, als Theater, jetzt
ſcheinbar großen Schutz von oben; braucht ihn aber um fort-
zuleben nicht mehr.“ Horchen Sie alſo nach Ihrem eigenen
Talent, und Ihrem Sinn für Ihre Kunſt hin; arbeiten Sie
nach dem: und Sie werden außen gefallen: nöthig und ge-
ſucht ſein. Hätte ich ein Talent und wäre auf der Bühne,
ich würde der entgegengeſetzten Richtung und Regel der jetzi-
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/129>, abgerufen am 25.11.2024.
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