Gelehrte, als hätte er dem lieben Gott in die Karte gesehn, und wäre zu allem geistigen Anfang durch bloße Frommheit gekommen, und setzt diesen in die Sünde. Ist aber tief- sinnig, geistreich und scharfsinnig genug, um sich häufig, auf jeder Seite könnt' ich sagen, zu widersprechen. Zum Beispiel, behauptet sein guter Verstand, neben seinem willkürlich- eitel- stolz- oberflächlich- demüthigen Setzen seiner Sünde, daß Schuld aufhören könne, und man immer von neuem wieder unschuldig würde. So phantasirt er, geistvoll, unwahr, tief- sinnig, fade, das ganze Buch hindurch; schlägt an alle Geistes- gränzen an, braucht Wissenschaft und Systeme aller Art, und -- bringt mich in einen wahren Ärger! Solch kluger Mann! Solche Gaben, solche Hervorbringungen des Denkens, so seicht zu verschleudern, mit aller Emphase der Wahrheit, und dem Schein des Ergriffenseins! -- Was zwingt einen mensch- lichen Geist, eine Sünde anzunehmen, durch die wir hier sein sollen? Neben einem lieben Gott! das heißt neben einem Geiste, der alles begreift, sich, uns, alle Nothwendigkeit, alles Dasein, alle Verhältnisse; und den durchaus wir nicht be- greifen, weil wir nichts evidenter wissen als unsre Gränzen; den wir nur durch eine uns eingegebene Gabe voraussetzen müssen, nämlich durch unsres eignen Geistes Fähigkeit, uns unendliche Geister zu denken, und weil es, der Natur unsres Geistes gemäß, sinniger ist, einen alles begreifenden, vorstehen- den Geist uns zu denken, als bei Unsinn, wie vieles für un- sern Geist ist, stehen zu bleiben. Diese Voraussetzung ist uns zugleich Trost; wäre sie aber nur Trost, -- so sehr wir seiner auch bedürfen, so könnte doch unser Geist, aus Trost-
Gelehrte, als hätte er dem lieben Gott in die Karte geſehn, und wäre zu allem geiſtigen Anfang durch bloße Frommheit gekommen, und ſetzt dieſen in die Sünde. Iſt aber tief- ſinnig, geiſtreich und ſcharfſinnig genug, um ſich häufig, auf jeder Seite könnt’ ich ſagen, zu widerſprechen. Zum Beiſpiel, behauptet ſein guter Verſtand, neben ſeinem willkürlich- eitel- ſtolz- oberflächlich- demüthigen Setzen ſeiner Sünde, daß Schuld aufhören könne, und man immer von neuem wieder unſchuldig würde. So phantaſirt er, geiſtvoll, unwahr, tief- ſinnig, fade, das ganze Buch hindurch; ſchlägt an alle Geiſtes- gränzen an, braucht Wiſſenſchaft und Syſteme aller Art, und — bringt mich in einen wahren Ärger! Solch kluger Mann! Solche Gaben, ſolche Hervorbringungen des Denkens, ſo ſeicht zu verſchleudern, mit aller Emphaſe der Wahrheit, und dem Schein des Ergriffenſeins! — Was zwingt einen menſch- lichen Geiſt, eine Sünde anzunehmen, durch die wir hier ſein ſollen? Neben einem lieben Gott! das heißt neben einem Geiſte, der alles begreift, ſich, uns, alle Nothwendigkeit, alles Daſein, alle Verhältniſſe; und den durchaus wir nicht be- greifen, weil wir nichts evidenter wiſſen als unſre Gränzen; den wir nur durch eine uns eingegebene Gabe vorausſetzen müſſen, nämlich durch unſres eignen Geiſtes Fähigkeit, uns unendliche Geiſter zu denken, und weil es, der Natur unſres Geiſtes gemäß, ſinniger iſt, einen alles begreifenden, vorſtehen- den Geiſt uns zu denken, als bei Unſinn, wie vieles für un- ſern Geiſt iſt, ſtehen zu bleiben. Dieſe Vorausſetzung iſt uns zugleich Troſt; wäre ſie aber nur Troſt, — ſo ſehr wir ſeiner auch bedürfen, ſo könnte doch unſer Geiſt, aus Troſt-
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Gelehrte, als hätte er dem lieben Gott in die Karte geſehn,
und wäre zu allem geiſtigen Anfang durch bloße Frommheit
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ſinnig, geiſtreich und ſcharfſinnig genug, um ſich häufig, auf
jeder Seite könnt’ ich ſagen, zu widerſprechen. Zum Beiſpiel,
behauptet ſein guter Verſtand, neben ſeinem willkürlich- eitel-
ſtolz- oberflächlich- demüthigen Setzen ſeiner Sünde, daß
Schuld aufhören könne, und man immer von neuem wieder
unſchuldig würde. So phantaſirt er, geiſtvoll, unwahr, tief-
ſinnig, fade, das ganze Buch hindurch; ſchlägt an alle Geiſtes-
gränzen an, braucht Wiſſenſchaft und Syſteme aller Art, und
— bringt mich in einen wahren Ärger! Solch kluger Mann!
Solche Gaben, ſolche Hervorbringungen des Denkens, ſo
ſeicht zu verſchleudern, mit aller Emphaſe der Wahrheit, und
dem Schein des Ergriffenſeins! — Was zwingt einen menſch-
lichen Geiſt, eine Sünde anzunehmen, durch die wir hier ſein
ſollen? Neben einem lieben Gott! das heißt neben einem
Geiſte, der alles begreift, ſich, uns, alle Nothwendigkeit, alles
Daſein, alle Verhältniſſe; und den durchaus wir nicht be-
greifen, weil wir nichts evidenter wiſſen als unſre Gränzen;
den wir nur durch eine uns eingegebene Gabe vorausſetzen
müſſen, nämlich durch unſres eignen Geiſtes Fähigkeit, uns
unendliche Geiſter zu denken, und weil es, der Natur unſres
Geiſtes gemäß, ſinniger iſt, einen alles begreifenden, vorſtehen-
den Geiſt uns zu denken, als bei Unſinn, wie vieles für un-
ſern Geiſt iſt, ſtehen zu bleiben. Dieſe Vorausſetzung iſt uns
zugleich Troſt; wäre ſie aber nur Troſt, — ſo ſehr wir
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 555. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/563>, abgerufen am 22.11.2024.
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