ich erleben! Eine Tochter Friedrichs. Die Welt kommt noch so zurück, daß wenn man nicht bald stirbt, so lernt man noch Richelieu den Ersten kennen, die Schlange; und Adam, und die ganze erste Societät. --
Wien, den 3. März 1815.
Ich habe seit einiger Zeit viel über das Lügen nachge- dacht. Es wirkt doch viel nach außen, und von außen nach innen. -- Könnten sehr geistreiche, geistvoll ergründende, wahr- hafte Menschen mit einem starken Karakter das Lügen studi- ren, und dann wie andere erlernte Dinge mit Fertigkeit aus- üben, es müßte zu kolossalen Wirkungen führen: der Wahrheit würde angst und bang, sie stünde ganz klein, als Seufzer, als regret, als Angeführter in der Welt da, und flüchtete ganz in die dunkle innere; so reell könnte das Lügen im Großen, Planmäßigen aufstehn. Große Zeit und fanatische Anhänger könnten nur schwer dagegen siegen. Meine Meinung hier ist nur sehr roh vorgetragen: die Klugen werden sie schon ergänzen. Die Lügner unserer Zeit pfuschen nur, wie groß sie auch ihr Spiel ausdehnen wollen, sie haben keine Wahr- heit in der Seele, und haben die Lüge nicht studirt.
Wien 1815.
Ich muß Ihnen Einiges von unserm gestrigen Abend erzählen!
T. sagte vom Adel, er komme ihr vor, als ob jetzt je- mand in den wohlgepflasterten Straßen, in den belebten, han- delsreichen Städten umhergehn wollte mit Tigerfell und Keule
ich erleben! Eine Tochter Friedrichs. Die Welt kommt noch ſo zurück, daß wenn man nicht bald ſtirbt, ſo lernt man noch Richelieu den Erſten kennen, die Schlange; und Adam, und die ganze erſte Societät. —
Wien, den 3. März 1815.
Ich habe ſeit einiger Zeit viel über das Lügen nachge- dacht. Es wirkt doch viel nach außen, und von außen nach innen. — Könnten ſehr geiſtreiche, geiſtvoll ergründende, wahr- hafte Menſchen mit einem ſtarken Karakter das Lügen ſtudi- ren, und dann wie andere erlernte Dinge mit Fertigkeit aus- üben, es müßte zu koloſſalen Wirkungen führen: der Wahrheit würde angſt und bang, ſie ſtünde ganz klein, als Seufzer, als regret, als Angeführter in der Welt da, und flüchtete ganz in die dunkle innere; ſo reell könnte das Lügen im Großen, Planmäßigen aufſtehn. Große Zeit und fanatiſche Anhänger könnten nur ſchwer dagegen ſiegen. Meine Meinung hier iſt nur ſehr roh vorgetragen: die Klugen werden ſie ſchon ergänzen. Die Lügner unſerer Zeit pfuſchen nur, wie groß ſie auch ihr Spiel ausdehnen wollen, ſie haben keine Wahr- heit in der Seele, und haben die Lüge nicht ſtudirt.
Wien 1815.
Ich muß Ihnen Einiges von unſerm geſtrigen Abend erzählen!
T. ſagte vom Adel, er komme ihr vor, als ob jetzt je- mand in den wohlgepflaſterten Straßen, in den belebten, han- delsreichen Städten umhergehn wollte mit Tigerfell und Keule
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ich erleben! Eine Tochter Friedrichs. Die Welt kommt noch
ſo zurück, daß wenn man nicht bald ſtirbt, ſo lernt man noch
Richelieu den Erſten kennen, die Schlange; und Adam, und
die ganze erſte Societät. —
Wien, den 3. März 1815.
Ich habe ſeit einiger Zeit viel über das Lügen nachge-
dacht. Es wirkt doch viel nach außen, und von außen nach
innen. — Könnten ſehr geiſtreiche, geiſtvoll ergründende, wahr-
hafte Menſchen mit einem ſtarken Karakter das Lügen ſtudi-
ren, und dann wie andere erlernte Dinge mit Fertigkeit aus-
üben, es müßte zu koloſſalen Wirkungen führen: der Wahrheit
würde angſt und bang, ſie ſtünde ganz klein, als Seufzer,
als regret, als Angeführter in der Welt da, und flüchtete
ganz in die dunkle innere; ſo reell könnte das Lügen im
Großen, Planmäßigen aufſtehn. Große Zeit und fanatiſche
Anhänger könnten nur ſchwer dagegen ſiegen. Meine Meinung
hier iſt nur ſehr roh vorgetragen: die Klugen werden ſie ſchon
ergänzen. Die Lügner unſerer Zeit pfuſchen nur, wie groß
ſie auch ihr Spiel ausdehnen wollen, ſie haben keine Wahr-
heit in der Seele, und haben die Lüge nicht ſtudirt.
Wien 1815.
Ich muß Ihnen Einiges von unſerm geſtrigen Abend
erzählen!
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/270>, abgerufen am 09.11.2024.
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