Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

größten Unglück, weil ihnen absolut der Platz fehlt, nun wol-
len sie den erjagen; und spielen Platzabjagen, oder quatre-
coins,
wobei die armen Pferde, die von nichts wissen, jedesmal
ihre Hüftchen zu meinem größten Zittern und Schreck preis-
geben müssen, die, und ein Graf Münster, dem man zwei
Rippen, und ein armer Jäger, dem man beide Beine zerfah-
ren, müssen alles büßen. Ein Kaiserlicher Wagen wollte auch
mich den zweiten Tag als ich hier war umfahren; mein Fia-
ker (der Wagen nämlich) floh in die Höhe und that sich nichts,
sondern stieß mich nur, der Kutscher schimpfte Halunke! hatte
aber eben so viel Ambition und Schuld gehabt, als der Kai-
serliche. Nichts Großartiges im Äußern hat mich hier noch
wie so vieles in Prag frappirt, Ihnen, werthe lauschende Ka-
roline, würde es dagegen gar nicht gefallen. Im Kasperle-
Theater sind konsommirte Schauspieler: bei den andern habe
ich noch nichts durchaus bewundert. In Gesellschaft war ich
wenig, doch habe ich welche gesehen: und unzählige Menschen.
Alle Gesellschaften in Europa, die welche sind, sind sich gleich,
und mir lieb, d. h. egal lieb. Öffentliches haben wir ja gar
nichts: und dies ist ein frikassirter Ersatz davon, wie das meiste
Jetzige in meinen Augen. Oder gab es vor alten Zeiten, trotz
der Berichte, Geschichten, Gedichte und Bewunderung, auch
nichts? -- ich habe starke Ahndung -- und nimmt sich's nur
"gut in Liedern aus, was die litten, die thaten?" Schreiben
kann ich gar nicht: denn ich weiß nichts: es ist mir hier in
der ersten Unruh vergangen. Bald komme ich in Ruh; und
ärnte ich da nur das Mindeste, so sollen Sie frische Garben
haben. Mit dem Kongreß geht's wie im Damspiel, wenn

größten Unglück, weil ihnen abſolut der Platz fehlt, nun wol-
len ſie den erjagen; und ſpielen Platzabjagen, oder quatre-
coins,
wobei die armen Pferde, die von nichts wiſſen, jedesmal
ihre Hüftchen zu meinem größten Zittern und Schreck preis-
geben müſſen, die, und ein Graf Münſter, dem man zwei
Rippen, und ein armer Jäger, dem man beide Beine zerfah-
ren, müſſen alles büßen. Ein Kaiſerlicher Wagen wollte auch
mich den zweiten Tag als ich hier war umfahren; mein Fia-
ker (der Wagen nämlich) floh in die Höhe und that ſich nichts,
ſondern ſtieß mich nur, der Kutſcher ſchimpfte Halunke! hatte
aber eben ſo viel Ambition und Schuld gehabt, als der Kai-
ſerliche. Nichts Großartiges im Äußern hat mich hier noch
wie ſo vieles in Prag frappirt, Ihnen, werthe lauſchende Ka-
roline, würde es dagegen gar nicht gefallen. Im Kaſperle-
Theater ſind konſommirte Schauſpieler: bei den andern habe
ich noch nichts durchaus bewundert. In Geſellſchaft war ich
wenig, doch habe ich welche geſehen: und unzählige Menſchen.
Alle Geſellſchaften in Europa, die welche ſind, ſind ſich gleich,
und mir lieb, d. h. egal lieb. Öffentliches haben wir ja gar
nichts: und dies iſt ein frikaſſirter Erſatz davon, wie das meiſte
Jetzige in meinen Augen. Oder gab es vor alten Zeiten, trotz
der Berichte, Geſchichten, Gedichte und Bewunderung, auch
nichts? — ich habe ſtarke Ahndung — und nimmt ſich’s nur
„gut in Liedern aus, was die litten, die thaten?“ Schreiben
kann ich gar nicht: denn ich weiß nichts: es iſt mir hier in
der erſten Unruh vergangen. Bald komme ich in Ruh; und
ärnte ich da nur das Mindeſte, ſo ſollen Sie friſche Garben
haben. Mit dem Kongreß geht’s wie im Damſpiel, wenn

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0255" n="247"/>
größten Unglück, weil ihnen ab&#x017F;olut der Platz fehlt, nun wol-<lb/>
len &#x017F;ie den erjagen; und &#x017F;pielen Platzabjagen, oder <hi rendition="#aq">quatre-<lb/>
coins,</hi> wobei die armen Pferde, die von nichts wi&#x017F;&#x017F;en, jedesmal<lb/>
ihre Hüftchen zu meinem größten Zittern und Schreck preis-<lb/>
geben mü&#x017F;&#x017F;en, die, und ein Graf Mün&#x017F;ter, dem man zwei<lb/>
Rippen, und ein armer Jäger, dem man beide Beine zerfah-<lb/>
ren, mü&#x017F;&#x017F;en alles büßen. Ein Kai&#x017F;erlicher Wagen wollte auch<lb/>
mich den zweiten Tag als ich hier war umfahren; mein Fia-<lb/>
ker (der Wagen nämlich) floh in die Höhe und that &#x017F;ich nichts,<lb/>
&#x017F;ondern &#x017F;tieß mich nur, der Kut&#x017F;cher &#x017F;chimpfte <hi rendition="#g">Halunke</hi>! hatte<lb/>
aber eben &#x017F;o viel Ambition und Schuld gehabt, als der Kai-<lb/>
&#x017F;erliche. <hi rendition="#g">Nichts</hi> Großartiges im Äußern hat mich hier noch<lb/>
wie &#x017F;o vieles in Prag frappirt, Ihnen, werthe lau&#x017F;chende Ka-<lb/>
roline, würde es dagegen gar nicht gefallen. Im Ka&#x017F;perle-<lb/>
Theater &#x017F;ind kon&#x017F;ommirte Schau&#x017F;pieler: bei den andern habe<lb/>
ich noch nichts durchaus bewundert. In Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft war ich<lb/>
wenig, doch habe ich welche ge&#x017F;ehen: und unzählige Men&#x017F;chen.<lb/>
Alle Ge&#x017F;ell&#x017F;chaften in Europa, die welche &#x017F;ind, &#x017F;ind &#x017F;ich gleich,<lb/>
und mir lieb, d. h. egal lieb. Öffentliches haben wir ja gar<lb/>
nichts: und dies i&#x017F;t ein frika&#x017F;&#x017F;irter Er&#x017F;atz davon, wie das mei&#x017F;te<lb/>
Jetzige in meinen Augen. Oder gab es vor alten Zeiten, trotz<lb/>
der Berichte, Ge&#x017F;chichten, Gedichte und Bewunderung, <hi rendition="#g">auch</hi><lb/>
nichts? &#x2014; ich habe &#x017F;tarke Ahndung &#x2014; und nimmt &#x017F;ich&#x2019;s nur<lb/>
&#x201E;gut in Liedern aus, was die litten, die thaten?&#x201C; Schreiben<lb/>
kann ich gar nicht: denn ich weiß nichts: es i&#x017F;t mir hier in<lb/>
der er&#x017F;ten Unruh vergangen. Bald komme ich in Ruh; und<lb/>
ärnte ich da nur das Minde&#x017F;te, &#x017F;o &#x017F;ollen Sie fri&#x017F;che Garben<lb/>
haben. Mit dem Kongreß geht&#x2019;s wie im Dam&#x017F;piel, wenn<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[247/0255] größten Unglück, weil ihnen abſolut der Platz fehlt, nun wol- len ſie den erjagen; und ſpielen Platzabjagen, oder quatre- coins, wobei die armen Pferde, die von nichts wiſſen, jedesmal ihre Hüftchen zu meinem größten Zittern und Schreck preis- geben müſſen, die, und ein Graf Münſter, dem man zwei Rippen, und ein armer Jäger, dem man beide Beine zerfah- ren, müſſen alles büßen. Ein Kaiſerlicher Wagen wollte auch mich den zweiten Tag als ich hier war umfahren; mein Fia- ker (der Wagen nämlich) floh in die Höhe und that ſich nichts, ſondern ſtieß mich nur, der Kutſcher ſchimpfte Halunke! hatte aber eben ſo viel Ambition und Schuld gehabt, als der Kai- ſerliche. Nichts Großartiges im Äußern hat mich hier noch wie ſo vieles in Prag frappirt, Ihnen, werthe lauſchende Ka- roline, würde es dagegen gar nicht gefallen. Im Kaſperle- Theater ſind konſommirte Schauſpieler: bei den andern habe ich noch nichts durchaus bewundert. In Geſellſchaft war ich wenig, doch habe ich welche geſehen: und unzählige Menſchen. Alle Geſellſchaften in Europa, die welche ſind, ſind ſich gleich, und mir lieb, d. h. egal lieb. Öffentliches haben wir ja gar nichts: und dies iſt ein frikaſſirter Erſatz davon, wie das meiſte Jetzige in meinen Augen. Oder gab es vor alten Zeiten, trotz der Berichte, Geſchichten, Gedichte und Bewunderung, auch nichts? — ich habe ſtarke Ahndung — und nimmt ſich’s nur „gut in Liedern aus, was die litten, die thaten?“ Schreiben kann ich gar nicht: denn ich weiß nichts: es iſt mir hier in der erſten Unruh vergangen. Bald komme ich in Ruh; und ärnte ich da nur das Mindeſte, ſo ſollen Sie friſche Garben haben. Mit dem Kongreß geht’s wie im Damſpiel, wenn

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/255
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/255>, abgerufen am 21.11.2024.