strömen. Solcher Todtschlag bleibt ein ewiger Schmerz: ist nicht zu bekämpfen, nicht zu ändern, und einzig tragisch.
Montag, den 11. April 1814. Am zweiten Ostertag, als man in Prag die Einnahme von Paris erfuhr.
Shakespeare sagt: "So soll ich denn mit fremden Augen in die Glückseligkeit schauen!" Wie vor einer ausgehungerten Stadt, können einem sehr Unglücklichen alle möglichen Lebens- mittel vor dem Herzen vorbeiziehen, und kein Korn, kein Tropfen Nahrung hinein kommen; er sieht den Reichthum, und nimmt Theil an der erquickenden Fülle der Andern, und feste Thore verschließen auf ewig sein Herz. Einem solchen beneidet und tadelt man oft noch Eitelkeit: ach! und er ver- mag gar nicht eitel zu sein, im Grunde!
Holde, reiche, milde, trostvolle Natur, nimm ihn auf in deinen unendlichen Schooß! verwehe ihm Menschenspur aus dem geängstigten, mißbrauchten, von ihm selbst mißbrauchten und mißverstandenen Herzen: verleibe ihn ein in dein Gesund- heitsathmen, vereinige ihn mit Element und Wetter! daß er, selbst gesund, durchsonnte Atmosphäre athme, einsauge, em- pfinde, und mit ihr einverstanden sei, durch frei bewegten Organismus der Glieder, und seines Geistes; daß er kein Verhältniß, nur ein Sein fühle, und eine frohe Welt empfinde! --
ſtrömen. Solcher Todtſchlag bleibt ein ewiger Schmerz: iſt nicht zu bekämpfen, nicht zu ändern, und einzig tragiſch.
Montag, den 11. April 1814. Am zweiten Oſtertag, als man in Prag die Einnahme von Paris erfuhr.
Shakeſpeare ſagt: „So ſoll ich denn mit fremden Augen in die Glückſeligkeit ſchauen!“ Wie vor einer ausgehungerten Stadt, können einem ſehr Unglücklichen alle möglichen Lebens- mittel vor dem Herzen vorbeiziehen, und kein Korn, kein Tropfen Nahrung hinein kommen; er ſieht den Reichthum, und nimmt Theil an der erquickenden Fülle der Andern, und feſte Thore verſchließen auf ewig ſein Herz. Einem ſolchen beneidet und tadelt man oft noch Eitelkeit: ach! und er ver- mag gar nicht eitel zu ſein, im Grunde!
Holde, reiche, milde, troſtvolle Natur, nimm ihn auf in deinen unendlichen Schooß! verwehe ihm Menſchenſpur aus dem geängſtigten, mißbrauchten, von ihm ſelbſt mißbrauchten und mißverſtandenen Herzen: verleibe ihn ein in dein Geſund- heitsathmen, vereinige ihn mit Element und Wetter! daß er, ſelbſt geſund, durchſonnte Atmoſphäre athme, einſauge, em- pfinde, und mit ihr einverſtanden ſei, durch frei bewegten Organismus der Glieder, und ſeines Geiſtes; daß er kein Verhältniß, nur ein Sein fühle, und eine frohe Welt empfinde! —
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0199"n="191"/>ſtrömen. Solcher Todtſchlag bleibt ein ewiger Schmerz: iſt<lb/>
nicht zu bekämpfen, nicht zu ändern, und einzig tragiſch.</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="3"><dateline><hirendition="#et">Montag, den 11. April 1814. Am zweiten Oſtertag, als<lb/>
man in Prag die Einnahme von Paris erfuhr.</hi></dateline><lb/><p>Shakeſpeare ſagt: „So ſoll ich denn mit fremden Augen<lb/>
in die Glückſeligkeit ſchauen!“ Wie vor einer ausgehungerten<lb/>
Stadt, können einem ſehr Unglücklichen alle möglichen Lebens-<lb/>
mittel vor dem Herzen vorbeiziehen, und kein Korn, kein<lb/>
Tropfen Nahrung hinein kommen; er ſieht den Reichthum,<lb/>
und nimmt Theil an der erquickenden Fülle der Andern, und<lb/>
feſte Thore verſchließen auf ewig ſein Herz. Einem ſolchen<lb/>
beneidet und tadelt man oft noch Eitelkeit: ach! und er ver-<lb/>
mag gar nicht eitel zu ſein, im Grunde!</p><lb/><p>Holde, reiche, milde, troſtvolle Natur, nimm ihn auf in<lb/>
deinen unendlichen Schooß! verwehe ihm Menſchenſpur aus<lb/>
dem geängſtigten, mißbrauchten, von ihm ſelbſt mißbrauchten<lb/>
und mißverſtandenen Herzen: verleibe ihn ein in dein Geſund-<lb/>
heitsathmen, vereinige ihn mit Element und Wetter! daß er,<lb/>ſelbſt geſund, durchſonnte Atmoſphäre athme, einſauge, em-<lb/>
pfinde, und mit ihr einverſtanden ſei, durch frei bewegten<lb/>
Organismus der Glieder, und ſeines Geiſtes; daß er kein<lb/>
Verhältniß, nur ein Sein fühle, und eine frohe Welt<lb/>
empfinde! —</p></div></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/></div></body></text></TEI>
[191/0199]
ſtrömen. Solcher Todtſchlag bleibt ein ewiger Schmerz: iſt
nicht zu bekämpfen, nicht zu ändern, und einzig tragiſch.
Montag, den 11. April 1814. Am zweiten Oſtertag, als
man in Prag die Einnahme von Paris erfuhr.
Shakeſpeare ſagt: „So ſoll ich denn mit fremden Augen
in die Glückſeligkeit ſchauen!“ Wie vor einer ausgehungerten
Stadt, können einem ſehr Unglücklichen alle möglichen Lebens-
mittel vor dem Herzen vorbeiziehen, und kein Korn, kein
Tropfen Nahrung hinein kommen; er ſieht den Reichthum,
und nimmt Theil an der erquickenden Fülle der Andern, und
feſte Thore verſchließen auf ewig ſein Herz. Einem ſolchen
beneidet und tadelt man oft noch Eitelkeit: ach! und er ver-
mag gar nicht eitel zu ſein, im Grunde!
Holde, reiche, milde, troſtvolle Natur, nimm ihn auf in
deinen unendlichen Schooß! verwehe ihm Menſchenſpur aus
dem geängſtigten, mißbrauchten, von ihm ſelbſt mißbrauchten
und mißverſtandenen Herzen: verleibe ihn ein in dein Geſund-
heitsathmen, vereinige ihn mit Element und Wetter! daß er,
ſelbſt geſund, durchſonnte Atmoſphäre athme, einſauge, em-
pfinde, und mit ihr einverſtanden ſei, durch frei bewegten
Organismus der Glieder, und ſeines Geiſtes; daß er kein
Verhältniß, nur ein Sein fühle, und eine frohe Welt
empfinde! —
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/199>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.