Eine gedehnte Unpäßlichkeit, die mir grad das Schreiben unmöglich machte, hielt mich ab, Ihnen zu antworten, welches mich recht peinigte, weil ich mich mehr als je gedrungen dazu fühlte. Ich bin noch nicht schreibefest, Sie müssen also nach- sichtig vorlieb nehmen!
Sie haben schon richtig gefühlt und gewählt: ich bin wohl Ihres Zutrauens werth. Was Sie in Ihrer Seele er- wägen, und mir die Ehre erzeigen darzulegen, erwäg' ich mit, und mit einem Ernste, als wäre es für meine eigene Seele: wie es denn auch ist. Ich fange damit an, mit Ihnen darin übereinzustimmen, daß die beiden Theile Ihres Briefes ganz und gar nur zwei Theile eines Ganzen sind, und also gewiß zusammengehören: nur muß ich, meinem Triebe nach, auf den zweiten zuerst antworten.
Wie können Sie nur glauben, daß irgend ein Mensch -- nicht "ich" -- wie Sie zu mir sprechen, "eine Kraft, eine Klarheit" in sich habe, die ihn über "die schrecklichen Ab- gründe" empor hielte? er schwebte ja doch nur! und ist das der forschenden Seele genug? Kann irgend eine Philosophie, ein Denken, uns über uns -- die Gränze unsers Seins -- hinaus bringen? Müssen wir uns nicht auf Gnade und Un- gnade ergeben? Einem persönlichen Wesen, von dem uns das moralische Dasein (ich bin gräßlich von einem Kinde ge- stört worden, welches seine Lektion bei mir macht!) ganz und
An Fouqué, in Nennhauſen.
Dienstag, den 31. December 1811.
Eine gedehnte Unpäßlichkeit, die mir grad das Schreiben unmöglich machte, hielt mich ab, Ihnen zu antworten, welches mich recht peinigte, weil ich mich mehr als je gedrungen dazu fühlte. Ich bin noch nicht ſchreibefeſt, Sie müſſen alſo nach- ſichtig vorlieb nehmen!
Sie haben ſchon richtig gefühlt und gewählt: ich bin wohl Ihres Zutrauens werth. Was Sie in Ihrer Seele er- wägen, und mir die Ehre erzeigen darzulegen, erwäg’ ich mit, und mit einem Ernſte, als wäre es für meine eigene Seele: wie es denn auch iſt. Ich fange damit an, mit Ihnen darin übereinzuſtimmen, daß die beiden Theile Ihres Briefes ganz und gar nur zwei Theile eines Ganzen ſind, und alſo gewiß zuſammengehören: nur muß ich, meinem Triebe nach, auf den zweiten zuerſt antworten.
Wie können Sie nur glauben, daß irgend ein Menſch — nicht „ich“ — wie Sie zu mir ſprechen, „eine Kraft, eine Klarheit“ in ſich habe, die ihn über „die ſchrecklichen Ab- gründe“ empor hielte? er ſchwebte ja doch nur! und iſt das der forſchenden Seele genug? Kann irgend eine Philoſophie, ein Denken, uns über uns — die Gränze unſers Seins — hinaus bringen? Müſſen wir uns nicht auf Gnade und Un- gnade ergeben? Einem perſönlichen Weſen, von dem uns das moraliſche Daſein (ich bin gräßlich von einem Kinde ge- ſtört worden, welches ſeine Lektion bei mir macht!) ganz und
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An Fouqué, in Nennhauſen.
Dienstag, den 31. December 1811.
Eine gedehnte Unpäßlichkeit, die mir grad das Schreiben
unmöglich machte, hielt mich ab, Ihnen zu antworten, welches
mich recht peinigte, weil ich mich mehr als je gedrungen dazu
fühlte. Ich bin noch nicht ſchreibefeſt, Sie müſſen alſo nach-
ſichtig vorlieb nehmen!
Sie haben ſchon richtig gefühlt und gewählt: ich bin
wohl Ihres Zutrauens werth. Was Sie in Ihrer Seele er-
wägen, und mir die Ehre erzeigen darzulegen, erwäg’ ich mit,
und mit einem Ernſte, als wäre es für meine eigene Seele:
wie es denn auch iſt. Ich fange damit an, mit Ihnen darin
übereinzuſtimmen, daß die beiden Theile Ihres Briefes ganz
und gar nur zwei Theile eines Ganzen ſind, und alſo gewiß
zuſammengehören: nur muß ich, meinem Triebe nach, auf den
zweiten zuerſt antworten.
Wie können Sie nur glauben, daß irgend ein Menſch —
nicht „ich“ — wie Sie zu mir ſprechen, „eine Kraft, eine
Klarheit“ in ſich habe, die ihn über „die ſchrecklichen Ab-
gründe“ empor hielte? er ſchwebte ja doch nur! und iſt das
der forſchenden Seele genug? Kann irgend eine Philoſophie,
ein Denken, uns über uns — die Gränze unſers Seins —
hinaus bringen? Müſſen wir uns nicht auf Gnade und Un-
gnade ergeben? Einem perſönlichen Weſen, von dem uns
das moraliſche Daſein (ich bin gräßlich von einem Kinde ge-
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 582. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/596>, abgerufen am 21.11.2024.
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