Form der geistigen Erzeugnisse noch sehr im Trüben urtheilte, und meist an kleinlichen Nebensachen und äußerlichen Über- einkommnissen hing, damals war es kein Geringes, mit ge- sundem Sinn und Herzen aus dem Gewirr von Täuschungen und Überschätzungen sogleich das Ächte und Wahre heraus- zufühlen und mit freiem Muthe zu bekennen. Die Liebe und Verehrung für Goethe war durch Rahel im Kreise ihrer Freunde längst zu einer Art von Kultus gediehen, nach allen Seiten sein leuchtendes, bekräftigendes Wort eingeschlagen, sein Name zur höchsten Beglaubigung geweiht, ehe die beiden Schlegel und ihre Anhänger, schon berührt und ergriffen von jenem Kultus, diese Richtung in der Litteratur festzustellen unter- nahmen. Gedenkenswerth erscheint es, daß, während diese Männer ihre Anbetung doch nicht ohne einige Absicht auf Ertrag und Lohn ausübten, Rahel ihrerseits dabei mit völli- gem Selbstvergessen verfuhr; sie hatte Goethe'n im Karlsbade persönlich kennen gelernt, und er mit Aufmerksamkeit und Antheil ihres Umgangs gepflogen, wie auch noch späterhin desselben mit Hochschätzung gedacht, ohne daß sie im gering- sten eine Verbindung festgehalten, einen Briefwechsel veran- laßt hätte, im Gegentheil, sie erwähnte wenig der Person, desto beeiferter aber des Genius, und nicht die zufällige Be- kanntschaft, sondern die wesentliche, die das Lesen seiner Schriften gab, genoß und zeigte sie mit Stolz und Freude. In der Philosophie stand ihr gleicherweise der edle Fichte voran, für dessen Geisteskarakter sie stets in gleicher Vereh- rung blieb, wenn auch sein Geistesgehalt bei weitem nicht alles abschloß, was ihr Gedankenflug forderte oder gestalten
Form der geiſtigen Erzeugniſſe noch ſehr im Trüben urtheilte, und meiſt an kleinlichen Nebenſachen und äußerlichen Über- einkommniſſen hing, damals war es kein Geringes, mit ge- ſundem Sinn und Herzen aus dem Gewirr von Täuſchungen und Überſchätzungen ſogleich das Ächte und Wahre heraus- zufühlen und mit freiem Muthe zu bekennen. Die Liebe und Verehrung für Goethe war durch Rahel im Kreiſe ihrer Freunde längſt zu einer Art von Kultus gediehen, nach allen Seiten ſein leuchtendes, bekräftigendes Wort eingeſchlagen, ſein Name zur höchſten Beglaubigung geweiht, ehe die beiden Schlegel und ihre Anhänger, ſchon berührt und ergriffen von jenem Kultus, dieſe Richtung in der Litteratur feſtzuſtellen unter- nahmen. Gedenkenswerth erſcheint es, daß, während dieſe Männer ihre Anbetung doch nicht ohne einige Abſicht auf Ertrag und Lohn ausübten, Rahel ihrerſeits dabei mit völli- gem Selbſtvergeſſen verfuhr; ſie hatte Goethe’n im Karlsbade perſönlich kennen gelernt, und er mit Aufmerkſamkeit und Antheil ihres Umgangs gepflogen, wie auch noch ſpäterhin deſſelben mit Hochſchätzung gedacht, ohne daß ſie im gering- ſten eine Verbindung feſtgehalten, einen Briefwechſel veran- laßt hätte, im Gegentheil, ſie erwähnte wenig der Perſon, deſto beeiferter aber des Genius, und nicht die zufällige Be- kanntſchaft, ſondern die weſentliche, die das Leſen ſeiner Schriften gab, genoß und zeigte ſie mit Stolz und Freude. In der Philoſophie ſtand ihr gleicherweiſe der edle Fichte voran, für deſſen Geiſteskarakter ſie ſtets in gleicher Vereh- rung blieb, wenn auch ſein Geiſtesgehalt bei weitem nicht alles abſchloß, was ihr Gedankenflug forderte oder geſtalten
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0036"n="22"/>
Form der geiſtigen Erzeugniſſe noch ſehr im Trüben urtheilte,<lb/>
und meiſt an kleinlichen Nebenſachen und äußerlichen Über-<lb/>
einkommniſſen hing, damals war es kein Geringes, mit ge-<lb/>ſundem Sinn und Herzen aus dem Gewirr von Täuſchungen<lb/>
und Überſchätzungen ſogleich das Ächte und Wahre heraus-<lb/>
zufühlen und mit freiem Muthe zu bekennen. Die Liebe und<lb/>
Verehrung für Goethe war durch Rahel im Kreiſe ihrer Freunde<lb/>
längſt zu einer Art von Kultus gediehen, nach allen Seiten<lb/>ſein leuchtendes, bekräftigendes Wort eingeſchlagen, ſein Name<lb/>
zur höchſten Beglaubigung geweiht, ehe die beiden Schlegel<lb/>
und ihre Anhänger, ſchon berührt und ergriffen von jenem<lb/>
Kultus, dieſe Richtung in der Litteratur feſtzuſtellen unter-<lb/>
nahmen. Gedenkenswerth erſcheint es, daß, während dieſe<lb/>
Männer ihre Anbetung doch nicht ohne einige Abſicht auf<lb/>
Ertrag und Lohn ausübten, Rahel ihrerſeits dabei mit völli-<lb/>
gem Selbſtvergeſſen verfuhr; ſie hatte Goethe’n im Karlsbade<lb/>
perſönlich kennen gelernt, und er mit Aufmerkſamkeit und<lb/>
Antheil ihres Umgangs gepflogen, wie auch noch ſpäterhin<lb/>
deſſelben mit Hochſchätzung gedacht, ohne daß ſie im gering-<lb/>ſten eine Verbindung feſtgehalten, einen Briefwechſel veran-<lb/>
laßt hätte, im Gegentheil, ſie erwähnte wenig der Perſon,<lb/>
deſto beeiferter aber des Genius, und nicht die zufällige Be-<lb/>
kanntſchaft, ſondern die weſentliche, die das Leſen ſeiner<lb/>
Schriften gab, genoß und zeigte ſie mit Stolz und Freude.<lb/>
In der Philoſophie ſtand ihr gleicherweiſe der edle Fichte<lb/>
voran, für deſſen Geiſteskarakter ſie ſtets in gleicher Vereh-<lb/>
rung blieb, wenn auch ſein Geiſtesgehalt bei weitem nicht<lb/>
alles abſchloß, was ihr Gedankenflug forderte oder geſtalten<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[22/0036]
Form der geiſtigen Erzeugniſſe noch ſehr im Trüben urtheilte,
und meiſt an kleinlichen Nebenſachen und äußerlichen Über-
einkommniſſen hing, damals war es kein Geringes, mit ge-
ſundem Sinn und Herzen aus dem Gewirr von Täuſchungen
und Überſchätzungen ſogleich das Ächte und Wahre heraus-
zufühlen und mit freiem Muthe zu bekennen. Die Liebe und
Verehrung für Goethe war durch Rahel im Kreiſe ihrer Freunde
längſt zu einer Art von Kultus gediehen, nach allen Seiten
ſein leuchtendes, bekräftigendes Wort eingeſchlagen, ſein Name
zur höchſten Beglaubigung geweiht, ehe die beiden Schlegel
und ihre Anhänger, ſchon berührt und ergriffen von jenem
Kultus, dieſe Richtung in der Litteratur feſtzuſtellen unter-
nahmen. Gedenkenswerth erſcheint es, daß, während dieſe
Männer ihre Anbetung doch nicht ohne einige Abſicht auf
Ertrag und Lohn ausübten, Rahel ihrerſeits dabei mit völli-
gem Selbſtvergeſſen verfuhr; ſie hatte Goethe’n im Karlsbade
perſönlich kennen gelernt, und er mit Aufmerkſamkeit und
Antheil ihres Umgangs gepflogen, wie auch noch ſpäterhin
deſſelben mit Hochſchätzung gedacht, ohne daß ſie im gering-
ſten eine Verbindung feſtgehalten, einen Briefwechſel veran-
laßt hätte, im Gegentheil, ſie erwähnte wenig der Perſon,
deſto beeiferter aber des Genius, und nicht die zufällige Be-
kanntſchaft, ſondern die weſentliche, die das Leſen ſeiner
Schriften gab, genoß und zeigte ſie mit Stolz und Freude.
In der Philoſophie ſtand ihr gleicherweiſe der edle Fichte
voran, für deſſen Geiſteskarakter ſie ſtets in gleicher Vereh-
rung blieb, wenn auch ſein Geiſtesgehalt bei weitem nicht
alles abſchloß, was ihr Gedankenflug forderte oder geſtalten
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/36>, abgerufen am 21.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.