Da sich ein Quell gedrängter Lieder Ununterbrochen neu gebar, Da Nebel mir die Welt verhüllten, Die Knospe Wunder noch versprach, Da ich die tausend Blumen brach, Die alle Thäler reichlich füllten. Ich hatte nichts und doch genug, Den Drang nach Wahrheit und die Lust am Trug. Gieb ungebändigt jene Triebe, Das tiefe schmerzenvolle Glück, Des Hasses Kraft, die Macht der Liebe, Gieb meine Jugend mir zurück!
Mein Freund hat es auch diesmal für mich ausgesprochen! Und niemals will ich an dem nun verzweifeln! Urtheile, wie er heute, in dem Augenblicke, auf mich wirkte! Allen Dank, alle Zärtlichkeit hat er wieder in mir aufgeweckt. Dies mußte ich dir doch ungefähr so sagen, wie es war. Und nun das geschehen ist, preßt sich doch mein Herz wieder zu. Ich will nun weiter lesen. --
1808.
Ich habe erfunden: die Gemeinen verstehen sich unter- einander; sie haben ordentlich eine Münze des Verständnisses erfunden, wo kein Heller reiner Gehalt drin ist; aber davon leben ihre Geister, andere Nahrung fordern sie nicht. Und am Ende der Rechnung zahlen sie sich selbst damit aus; und der Umlauf geht wieder los. So verstehen sie vortrefflich Y. und Z., und alle ihre nobeln Sentiments: und billigen sich ganz ernsthaft! Hätten Gewächse der Erde Sprache, so lob- ten sich die niedrigern und ärmern auch; und wer weiß, ob nicht Todtenblumen sich mit Gewalt in köstliche Vasen stell-
Da ſich ein Quell gedrängter Lieder Ununterbrochen neu gebar, Da Nebel mir die Welt verhüllten, Die Knospe Wunder noch verſprach, Da ich die tauſend Blumen brach, Die alle Thäler reichlich füllten. Ich hatte nichts und doch genug, Den Drang nach Wahrheit und die Luſt am Trug. Gieb ungebändigt jene Triebe, Das tiefe ſchmerzenvolle Glück, Des Haſſes Kraft, die Macht der Liebe, Gieb meine Jugend mir zurück!
Mein Freund hat es auch diesmal für mich ausgeſprochen! Und niemals will ich an dem nun verzweifeln! Urtheile, wie er heute, in dem Augenblicke, auf mich wirkte! Allen Dank, alle Zärtlichkeit hat er wieder in mir aufgeweckt. Dies mußte ich dir doch ungefähr ſo ſagen, wie es war. Und nun das geſchehen iſt, preßt ſich doch mein Herz wieder zu. Ich will nun weiter leſen. —
1808.
Ich habe erfunden: die Gemeinen verſtehen ſich unter- einander; ſie haben ordentlich eine Münze des Verſtändniſſes erfunden, wo kein Heller reiner Gehalt drin iſt; aber davon leben ihre Geiſter, andere Nahrung fordern ſie nicht. Und am Ende der Rechnung zahlen ſie ſich ſelbſt damit aus; und der Umlauf geht wieder los. So verſtehen ſie vortrefflich Y. und Z., und alle ihre nobeln Sentiments: und billigen ſich ganz ernſthaft! Hätten Gewächſe der Erde Sprache, ſo lob- ten ſich die niedrigern und ärmern auch; und wer weiß, ob nicht Todtenblumen ſich mit Gewalt in köſtliche Vaſen ſtell-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><lgtype="poem"><pbfacs="#f0354"n="340"/><l>Da ſich ein Quell gedrängter Lieder</l><lb/><l>Ununterbrochen neu gebar,</l><lb/><l>Da Nebel mir die Welt verhüllten,</l><lb/><l>Die Knospe Wunder noch verſprach,</l><lb/><l>Da ich die tauſend Blumen brach,</l><lb/><l>Die alle Thäler reichlich füllten.</l><lb/><l><hirendition="#g">Ich hatte nichts und doch genug</hi>,</l><lb/><l>Den Drang nach Wahrheit und die Luſt am Trug.</l><lb/><l>Gieb ungebändigt jene Triebe,</l><lb/><l><hirendition="#g">Das tiefe ſchmerzenvolle Glück,</hi></l><lb/><l><hirendition="#g">Des Haſſes Kraft, die Macht der Liebe,</hi></l><lb/><l><hirendition="#g">Gieb meine Jugend mir zurück</hi>!</l></lg><lb/><p>Mein Freund hat es auch diesmal für mich ausgeſprochen!<lb/>
Und niemals will ich an dem nun verzweifeln! Urtheile, wie<lb/>
er heute, in dem Augenblicke, auf mich wirkte! Allen Dank,<lb/>
alle Zärtlichkeit hat er wieder in mir aufgeweckt. Dies mußte<lb/>
ich dir doch ungefähr ſo ſagen, wie es war. Und nun das<lb/>
geſchehen iſt, preßt ſich doch mein Herz wieder zu. Ich will<lb/>
nun weiter leſen. —</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="3"><dateline><hirendition="#et">1808.</hi></dateline><lb/><p>Ich habe erfunden: die Gemeinen verſtehen ſich unter-<lb/>
einander; ſie haben ordentlich eine Münze des Verſtändniſſes<lb/>
erfunden, wo kein Heller reiner Gehalt drin iſt; aber davon<lb/>
leben ihre Geiſter, andere Nahrung fordern ſie nicht. Und<lb/>
am Ende der Rechnung zahlen ſie ſich ſelbſt damit aus; und<lb/>
der Umlauf geht wieder los. So verſtehen ſie vortrefflich<lb/>
Y. und Z., und alle ihre nobeln Sentiments: und billigen ſich<lb/>
ganz ernſthaft! Hätten Gewächſe der Erde Sprache, ſo lob-<lb/>
ten ſich die niedrigern und ärmern auch; und wer weiß, ob<lb/>
nicht Todtenblumen ſich mit Gewalt in köſtliche Vaſen ſtell-<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[340/0354]
Da ſich ein Quell gedrängter Lieder
Ununterbrochen neu gebar,
Da Nebel mir die Welt verhüllten,
Die Knospe Wunder noch verſprach,
Da ich die tauſend Blumen brach,
Die alle Thäler reichlich füllten.
Ich hatte nichts und doch genug,
Den Drang nach Wahrheit und die Luſt am Trug.
Gieb ungebändigt jene Triebe,
Das tiefe ſchmerzenvolle Glück,
Des Haſſes Kraft, die Macht der Liebe,
Gieb meine Jugend mir zurück!
Mein Freund hat es auch diesmal für mich ausgeſprochen!
Und niemals will ich an dem nun verzweifeln! Urtheile, wie
er heute, in dem Augenblicke, auf mich wirkte! Allen Dank,
alle Zärtlichkeit hat er wieder in mir aufgeweckt. Dies mußte
ich dir doch ungefähr ſo ſagen, wie es war. Und nun das
geſchehen iſt, preßt ſich doch mein Herz wieder zu. Ich will
nun weiter leſen. —
1808.
Ich habe erfunden: die Gemeinen verſtehen ſich unter-
einander; ſie haben ordentlich eine Münze des Verſtändniſſes
erfunden, wo kein Heller reiner Gehalt drin iſt; aber davon
leben ihre Geiſter, andere Nahrung fordern ſie nicht. Und
am Ende der Rechnung zahlen ſie ſich ſelbſt damit aus; und
der Umlauf geht wieder los. So verſtehen ſie vortrefflich
Y. und Z., und alle ihre nobeln Sentiments: und billigen ſich
ganz ernſthaft! Hätten Gewächſe der Erde Sprache, ſo lob-
ten ſich die niedrigern und ärmern auch; und wer weiß, ob
nicht Todtenblumen ſich mit Gewalt in köſtliche Vaſen ſtell-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 340. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/354>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.