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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

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gend bis zu achtzehn Jahren erlebt man nicht, kränker war
man nicht, dem Wahnwitz näher auch nicht; und geliebt habe
ich. Wann aber sprach die Welt mich nicht an, wann fand
mich nicht alles Menschliche, wann nicht menschliches Inter-
esse: Leid und Kunst und Scherz! In dem Augenblick, wo
Schmerz und zerreißendes Vermissen die Seele auseinander-
zerrt, kann man, muß man nicht Geistesschätze ergraben wol-
len. Als dann muß man vom Vorrath zehren, von Vorrath
an den Schätzen, von Vorrath an dem höchsten menschlichen
Interesse, am menschlichen Interesse. Antworten Sie mir
nicht, daß Gaben der Natur nur dazu fähig machen; und
zum Beispiel, daß ich mich nicht mit Ihnen vergleichen soll.
Wer so raisonniren kann, wie Sie über manche Gegenstände,
der hat Kräfte: nur sein Interesse ist falsch gerichtet.

Ein gebildeter Mensch ist nicht der, den die Natur ver-
schwenderisch behandelt hat; ein gebildeter Mensch ist der, der
die Gaben, die er hat, gütig, weise und richtig, und auf die
höchste Weise gebraucht: der dies mit Ernst will; der mit
festen Augen hinsehen kann, wo es ihm fehlt, und einzusehen
vermag, was ihm fehlt. Dies ist in meinem Sinne Pflicht,
und keine Gabe; und konstituirt, für mich, nur ganz allein
einen gebildeten Menschen. Darum wende ich Sie endlich
mit Ihren Augen auf das zu sehen, was Sie eigentlich ver-
absäumen. Dies ist, sich mehr zum Allgemeinen -- a gene-
raliser
-- zu erheben; daß nicht Allgemeines Sie immer auf
Einzelnes führe, sondern umgekehrt. Dies ist höchst liebens-
würdig; dies würde Sie ganz liebenswürdig machen. Dies
können Sie erlangen; denn dies kommt plötzlich, durch einen

gend bis zu achtzehn Jahren erlebt man nicht, kränker war
man nicht, dem Wahnwitz näher auch nicht; und geliebt habe
ich. Wann aber ſprach die Welt mich nicht an, wann fand
mich nicht alles Menſchliche, wann nicht menſchliches Inter-
eſſe: Leid und Kunſt und Scherz! In dem Augenblick, wo
Schmerz und zerreißendes Vermiſſen die Seele auseinander-
zerrt, kann man, muß man nicht Geiſtesſchätze ergraben wol-
len. Als dann muß man vom Vorrath zehren, von Vorrath
an den Schätzen, von Vorrath an dem höchſten menſchlichen
Intereſſe, am menſchlichen Intereſſe. Antworten Sie mir
nicht, daß Gaben der Natur nur dazu fähig machen; und
zum Beiſpiel, daß ich mich nicht mit Ihnen vergleichen ſoll.
Wer ſo raiſonniren kann, wie Sie über manche Gegenſtände,
der hat Kräfte: nur ſein Intereſſe iſt falſch gerichtet.

Ein gebildeter Menſch iſt nicht der, den die Natur ver-
ſchwenderiſch behandelt hat; ein gebildeter Menſch iſt der, der
die Gaben, die er hat, gütig, weiſe und richtig, und auf die
höchſte Weiſe gebraucht: der dies mit Ernſt will; der mit
feſten Augen hinſehen kann, wo es ihm fehlt, und einzuſehen
vermag, was ihm fehlt. Dies iſt in meinem Sinne Pflicht,
und keine Gabe; und konſtituirt, für mich, nur ganz allein
einen gebildeten Menſchen. Darum wende ich Sie endlich
mit Ihren Augen auf das zu ſehen, was Sie eigentlich ver-
abſäumen. Dies iſt, ſich mehr zum Allgemeinen — à géné-
raliser
— zu erheben; daß nicht Allgemeines Sie immer auf
Einzelnes führe, ſondern umgekehrt. Dies iſt höchſt liebens-
würdig; dies würde Sie ganz liebenswürdig machen. Dies
können Sie erlangen; denn dies kommt plötzlich, durch einen

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[325/0339] gend bis zu achtzehn Jahren erlebt man nicht, kränker war man nicht, dem Wahnwitz näher auch nicht; und geliebt habe ich. Wann aber ſprach die Welt mich nicht an, wann fand mich nicht alles Menſchliche, wann nicht menſchliches Inter- eſſe: Leid und Kunſt und Scherz! In dem Augenblick, wo Schmerz und zerreißendes Vermiſſen die Seele auseinander- zerrt, kann man, muß man nicht Geiſtesſchätze ergraben wol- len. Als dann muß man vom Vorrath zehren, von Vorrath an den Schätzen, von Vorrath an dem höchſten menſchlichen Intereſſe, am menſchlichen Intereſſe. Antworten Sie mir nicht, daß Gaben der Natur nur dazu fähig machen; und zum Beiſpiel, daß ich mich nicht mit Ihnen vergleichen ſoll. Wer ſo raiſonniren kann, wie Sie über manche Gegenſtände, der hat Kräfte: nur ſein Intereſſe iſt falſch gerichtet. Ein gebildeter Menſch iſt nicht der, den die Natur ver- ſchwenderiſch behandelt hat; ein gebildeter Menſch iſt der, der die Gaben, die er hat, gütig, weiſe und richtig, und auf die höchſte Weiſe gebraucht: der dies mit Ernſt will; der mit feſten Augen hinſehen kann, wo es ihm fehlt, und einzuſehen vermag, was ihm fehlt. Dies iſt in meinem Sinne Pflicht, und keine Gabe; und konſtituirt, für mich, nur ganz allein einen gebildeten Menſchen. Darum wende ich Sie endlich mit Ihren Augen auf das zu ſehen, was Sie eigentlich ver- abſäumen. Dies iſt, ſich mehr zum Allgemeinen — à géné- raliser — zu erheben; daß nicht Allgemeines Sie immer auf Einzelnes führe, ſondern umgekehrt. Dies iſt höchſt liebens- würdig; dies würde Sie ganz liebenswürdig machen. Dies können Sie erlangen; denn dies kommt plötzlich, durch einen

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 325. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/339>, abgerufen am 23.11.2024.