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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

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sagte mein gestorbener einziger Freund Gualtieri -- "comme
une jambe."




Mir ist gut: weil ich nach den innren Bergwerken gar
nicht reise; nichts zur Sprache kommen lasse; und in jedem
Fall nur auf Wiederholungen kommen könnte, wenn nicht eine
plötzliche Glückssonne aufbräche. -- Noch immer freut es mich,
von der Folter gespannt zu sein: und an ein Unterkommen
denk' ich nicht. Freies Feld mit Schloßen ist nach solcher Par-
thie auch etwas. Und an sichere Palläste auf der unsichern
Herberge Erde, denk' ich so nicht mehr! Gott! wie schön ist
Lear. Ich weinte: als ich mir Shakespeare überlegte; über
seine bloße Existenz! Deutlicher kann ich's nicht sagen. Ich
sagte zu Louis, er spricht oft wie wir; und würde uns sehr
geliebt haben. Einmal sagt Lear: "Sagt mir, ist ein Wahn-
witziger ein Bürgerlicher oder ein Adlicher?" Wie tausendfach
schön auf seiner Stelle! --




Ich wiederhole mein altes Wort. Körperliche Leiden
minderte ich durch jedes Mittel! Ich kenne nur die höchste
Leidenschaft, den höchsten Schmerz des Herzens. Diese kann
man sich nicht allein lindern. Ich überlebte sie: wahrschein-
lich weil ich nicht sterben konnte. -- Ich weiß, daß der Schmerz
sich nicht ausspricht, und daß es aus dem rauschenden Strom
schöpfen heißt: ein wenig Wasser behält man: aber den Strom
ersieht nur der daraus, der ihn kennt. "Der laute Schrei des

I. 20

ſagte mein geſtorbener einziger Freund Gualtieri — „comme
une jambe.”




Mir iſt gut: weil ich nach den innren Bergwerken gar
nicht reiſe; nichts zur Sprache kommen laſſe; und in jedem
Fall nur auf Wiederholungen kommen könnte, wenn nicht eine
plötzliche Glücksſonne aufbräche. — Noch immer freut es mich,
von der Folter geſpannt zu ſein: und an ein Unterkommen
denk’ ich nicht. Freies Feld mit Schloßen iſt nach ſolcher Par-
thie auch etwas. Und an ſichere Palläſte auf der unſichern
Herberge Erde, denk’ ich ſo nicht mehr! Gott! wie ſchön iſt
Lear. Ich weinte: als ich mir Shakeſpeare überlegte; über
ſeine bloße Exiſtenz! Deutlicher kann ich’s nicht ſagen. Ich
ſagte zu Louis, er ſpricht oft wie wir; und würde uns ſehr
geliebt haben. Einmal ſagt Lear: „Sagt mir, iſt ein Wahn-
witziger ein Bürgerlicher oder ein Adlicher?“ Wie tauſendfach
ſchön auf ſeiner Stelle! —




Ich wiederhole mein altes Wort. Körperliche Leiden
minderte ich durch jedes Mittel! Ich kenne nur die höchſte
Leidenſchaft, den höchſten Schmerz des Herzens. Dieſe kann
man ſich nicht allein lindern. Ich überlebte ſie: wahrſchein-
lich weil ich nicht ſterben konnte. — Ich weiß, daß der Schmerz
ſich nicht ausſpricht, und daß es aus dem rauſchenden Strom
ſchöpfen heißt: ein wenig Waſſer behält man: aber den Strom
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I. 20
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[305/0319] ſagte mein geſtorbener einziger Freund Gualtieri — „comme une jambe.” Sonnabend, den 14. Oktober 1806. Mir iſt gut: weil ich nach den innren Bergwerken gar nicht reiſe; nichts zur Sprache kommen laſſe; und in jedem Fall nur auf Wiederholungen kommen könnte, wenn nicht eine plötzliche Glücksſonne aufbräche. — Noch immer freut es mich, von der Folter geſpannt zu ſein: und an ein Unterkommen denk’ ich nicht. Freies Feld mit Schloßen iſt nach ſolcher Par- thie auch etwas. Und an ſichere Palläſte auf der unſichern Herberge Erde, denk’ ich ſo nicht mehr! Gott! wie ſchön iſt Lear. Ich weinte: als ich mir Shakeſpeare überlegte; über ſeine bloße Exiſtenz! Deutlicher kann ich’s nicht ſagen. Ich ſagte zu Louis, er ſpricht oft wie wir; und würde uns ſehr geliebt haben. Einmal ſagt Lear: „Sagt mir, iſt ein Wahn- witziger ein Bürgerlicher oder ein Adlicher?“ Wie tauſendfach ſchön auf ſeiner Stelle! — Den 10. December 1806. Ich wiederhole mein altes Wort. Körperliche Leiden minderte ich durch jedes Mittel! Ich kenne nur die höchſte Leidenſchaft, den höchſten Schmerz des Herzens. Dieſe kann man ſich nicht allein lindern. Ich überlebte ſie: wahrſchein- lich weil ich nicht ſterben konnte. — Ich weiß, daß der Schmerz ſich nicht ausſpricht, und daß es aus dem rauſchenden Strom ſchöpfen heißt: ein wenig Waſſer behält man: aber den Strom erſieht nur der daraus, der ihn kennt. „Der laute Schrei des I. 20

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/319>, abgerufen am 18.12.2024.