Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

höheren Grades von Schmerz fähig, als alle mir bekannte
Menschen, mich mit eingerechnet; denn er ertrug ihn schlech-
terdings nicht. Stellte ihm sein Geist und sein Körper die
Dinge auf die Weise, und so erhöht, oder forderte seine Seele
schärfer und mächtiger ihr Wohlsein: genug, er erzwang's in
äußern Bedingungen jedesmal. Daher war er gewaltthätig
und so auch in seiner Eitelkeit. Er selbst war nie sein Narr;
die Mitspielenden mußten es aber sein: Verführung, Über-
redung, Gewalt, Überzeugung, galten ihm nicht gleich, muß-
ten ihm aber dienen helfen. So konnte er närrisch scheinen,
ohne es zu sein. Weinen, sich rächen, drohen, seicht leben,
zwingen, klügeln, sich anstrengen, schmeicheln -- natürlich
nicht lange; alles konnte und gebrauchte er, nichts war ihm
zu groß, nichts zu klein, um den Moment des Zurücktretens
zu vermeiden. Von eigenem Geiste getrieben, stellte er sich
wohl selbst zurück; und beurtheilen konnte er sich sehr gut,
wenn es wieder auf Urtheil ankam. Niemals hat jemand
das Schöne seines Gemüths weniger in Umlauf gesetzt, es
selbst weniger besichtelt! Seine Moralität fühlte er immer
fertig; er wollte aber mit vieler Gewalt und ununter-
brochener
Anstrengung auch ein Asyl in der Welt für sein
besseres Sein; er war durchaus kein Dulder; und so ergriffen
von dem Gefühl, welches ihm dies verbot, so durchdrungen
von der Einsicht, daß der Moment auch eine Zukunft ist, daß
er mir oft aus dem tiefsten Geiste sagte: "Ja! das Würm-
chen, sehen Sie's kriechen, es hat seinen Moment, er ist alles.
Es lebt wie ich; es ist an seiner Stelle, niemand kann da
sein!" -- und so sprach er von niederschlagenden Scenen --

höheren Grades von Schmerz fähig, als alle mir bekannte
Menſchen, mich mit eingerechnet; denn er ertrug ihn ſchlech-
terdings nicht. Stellte ihm ſein Geiſt und ſein Körper die
Dinge auf die Weiſe, und ſo erhöht, oder forderte ſeine Seele
ſchärfer und mächtiger ihr Wohlſein: genug, er erzwang’s in
äußern Bedingungen jedesmal. Daher war er gewaltthätig
und ſo auch in ſeiner Eitelkeit. Er ſelbſt war nie ſein Narr;
die Mitſpielenden mußten es aber ſein: Verführung, Über-
redung, Gewalt, Überzeugung, galten ihm nicht gleich, muß-
ten ihm aber dienen helfen. So konnte er närriſch ſcheinen,
ohne es zu ſein. Weinen, ſich rächen, drohen, ſeicht leben,
zwingen, klügeln, ſich anſtrengen, ſchmeicheln — natürlich
nicht lange; alles konnte und gebrauchte er, nichts war ihm
zu groß, nichts zu klein, um den Moment des Zurücktretens
zu vermeiden. Von eigenem Geiſte getrieben, ſtellte er ſich
wohl ſelbſt zurück; und beurtheilen konnte er ſich ſehr gut,
wenn es wieder auf Urtheil ankam. Niemals hat jemand
das Schöne ſeines Gemüths weniger in Umlauf geſetzt, es
ſelbſt weniger beſichtelt! Seine Moralität fühlte er immer
fertig; er wollte aber mit vieler Gewalt und ununter-
brochener
Anſtrengung auch ein Aſyl in der Welt für ſein
beſſeres Sein; er war durchaus kein Dulder; und ſo ergriffen
von dem Gefühl, welches ihm dies verbot, ſo durchdrungen
von der Einſicht, daß der Moment auch eine Zukunft iſt, daß
er mir oft aus dem tiefſten Geiſte ſagte: „Ja! das Würm-
chen, ſehen Sie’s kriechen, es hat ſeinen Moment, er iſt alles.
Es lebt wie ich; es iſt an ſeiner Stelle, niemand kann da
ſein!“ — und ſo ſprach er von niederſchlagenden Scenen —

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0290" n="276"/>
höheren Grades von Schmerz fähig, als alle mir bekannte<lb/>
Men&#x017F;chen, mich mit eingerechnet; denn er ertrug ihn &#x017F;chlech-<lb/>
terdings nicht. Stellte ihm &#x017F;ein Gei&#x017F;t und &#x017F;ein Körper die<lb/>
Dinge auf die Wei&#x017F;e, und &#x017F;o erhöht, oder forderte &#x017F;eine Seele<lb/>
&#x017F;chärfer und mächtiger ihr Wohl&#x017F;ein: genug, er erzwang&#x2019;s in<lb/>
äußern Bedingungen jedesmal. Daher war er gewaltthätig<lb/>
und &#x017F;o auch in &#x017F;einer Eitelkeit. Er &#x017F;elb&#x017F;t war nie &#x017F;ein Narr;<lb/>
die Mit&#x017F;pielenden mußten es aber &#x017F;ein: Verführung, Über-<lb/>
redung, Gewalt, Überzeugung, galten ihm nicht gleich, muß-<lb/>
ten ihm aber dienen helfen. So konnte er närri&#x017F;ch &#x017F;cheinen,<lb/>
ohne es zu &#x017F;ein. Weinen, &#x017F;ich rächen, drohen, &#x017F;eicht leben,<lb/>
zwingen, klügeln, &#x017F;ich an&#x017F;trengen, &#x017F;chmeicheln &#x2014; natürlich<lb/>
nicht lange; alles konnte und gebrauchte er, nichts war ihm<lb/>
zu groß, nichts zu klein, um den Moment des Zurücktretens<lb/>
zu vermeiden. Von eigenem Gei&#x017F;te getrieben, &#x017F;tellte er &#x017F;ich<lb/>
wohl &#x017F;elb&#x017F;t zurück; und beurtheilen konnte er &#x017F;ich &#x017F;ehr gut,<lb/>
wenn es wieder auf Urtheil ankam. Niemals hat jemand<lb/>
das Schöne &#x017F;eines Gemüths weniger in Umlauf ge&#x017F;etzt, es<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t weniger be&#x017F;ichtelt! Seine Moralität fühlte er immer<lb/>
fertig; er wollte aber mit vieler Gewalt und <hi rendition="#g">ununter-<lb/>
brochener</hi> An&#x017F;trengung auch ein A&#x017F;yl in der Welt für &#x017F;ein<lb/>
be&#x017F;&#x017F;eres Sein; er war durchaus kein Dulder; und &#x017F;o ergriffen<lb/>
von dem Gefühl, welches ihm dies verbot, &#x017F;o durchdrungen<lb/>
von der Ein&#x017F;icht, daß der Moment auch eine Zukunft i&#x017F;t, daß<lb/>
er mir oft aus dem tief&#x017F;ten Gei&#x017F;te &#x017F;agte: &#x201E;Ja! das Würm-<lb/>
chen, &#x017F;ehen Sie&#x2019;s kriechen, es hat &#x017F;einen Moment, er i&#x017F;t alles.<lb/>
Es lebt wie ich; es i&#x017F;t an &#x017F;einer Stelle, niemand kann <hi rendition="#g">da</hi><lb/>
&#x017F;ein!&#x201C; &#x2014; und &#x017F;o &#x017F;prach er von nieder&#x017F;chlagenden Scenen &#x2014;<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[276/0290] höheren Grades von Schmerz fähig, als alle mir bekannte Menſchen, mich mit eingerechnet; denn er ertrug ihn ſchlech- terdings nicht. Stellte ihm ſein Geiſt und ſein Körper die Dinge auf die Weiſe, und ſo erhöht, oder forderte ſeine Seele ſchärfer und mächtiger ihr Wohlſein: genug, er erzwang’s in äußern Bedingungen jedesmal. Daher war er gewaltthätig und ſo auch in ſeiner Eitelkeit. Er ſelbſt war nie ſein Narr; die Mitſpielenden mußten es aber ſein: Verführung, Über- redung, Gewalt, Überzeugung, galten ihm nicht gleich, muß- ten ihm aber dienen helfen. So konnte er närriſch ſcheinen, ohne es zu ſein. Weinen, ſich rächen, drohen, ſeicht leben, zwingen, klügeln, ſich anſtrengen, ſchmeicheln — natürlich nicht lange; alles konnte und gebrauchte er, nichts war ihm zu groß, nichts zu klein, um den Moment des Zurücktretens zu vermeiden. Von eigenem Geiſte getrieben, ſtellte er ſich wohl ſelbſt zurück; und beurtheilen konnte er ſich ſehr gut, wenn es wieder auf Urtheil ankam. Niemals hat jemand das Schöne ſeines Gemüths weniger in Umlauf geſetzt, es ſelbſt weniger beſichtelt! Seine Moralität fühlte er immer fertig; er wollte aber mit vieler Gewalt und ununter- brochener Anſtrengung auch ein Aſyl in der Welt für ſein beſſeres Sein; er war durchaus kein Dulder; und ſo ergriffen von dem Gefühl, welches ihm dies verbot, ſo durchdrungen von der Einſicht, daß der Moment auch eine Zukunft iſt, daß er mir oft aus dem tiefſten Geiſte ſagte: „Ja! das Würm- chen, ſehen Sie’s kriechen, es hat ſeinen Moment, er iſt alles. Es lebt wie ich; es iſt an ſeiner Stelle, niemand kann da ſein!“ — und ſo ſprach er von niederſchlagenden Scenen —

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/290
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/290>, abgerufen am 28.11.2024.