Gestern, liebe Rose, ist der Hr. von Bielfeld ab von hier nach Amsterdam gereist, dem ich ein Billet gegeben, worin ich dir ein wenig aus dem Herzen schrieb. Er wird in einigen Wochen ankommen: so lange kann ich nicht warten. Laß dir sagen, mein Kind! -- daß ich wieder traurig, ganz traurig bin. Und warum nicht! fehlt mir nicht, trotz den ungeheuren Gaben und Geschenken, jede Spitze des Glücks? Müssen "sie nicht alle verwesen, die Wünsche im Herzen?" Wird mir wohl Einer frei und schön; geht je ein geheimer Wunsch und das Glück zusammen? mißräth mir nicht alles? Hab' ich nicht nur etwas, weil ich's wie eine Art rasender Priester mir erreiße; erreiße ich gerne? Habe ich nicht die ruhigste, spielendste Seele? Habe ich auch nur das Geringste, wenn ich ruhig bleibe, und spielen möchte? Fehlt mir nicht immer der Glanz, und die Spitze der Dinge; so daß ich das, was ich habe, schätze, und gewiß erkenne, doch nicht genießen -- nicht genießen, wie man genießet -- kann! Hilft das Über- täuben mit sich, das Läugnen und Lügen mit Andern, hilft all mein reicher, freier, ergiebiger Geist! Ist man nicht eben so arm ohne des Glücks Hülfe, als ohne Gaben der Natur? kann ich mir wohl sogar noch rein wünschen -- mit Aufge- bung alles andern -- bei Hanne'n zu sein? bist du nicht weg? verlier ich nicht alles; und muß es Glück nennen! O! trag es wer es will! ich bin, und mag so groß nicht sein. Könnt' ich wollen, so wär' ich. (Bartholdy und noch ein
An Roſe, in Amſterdam.
Paris, Sonntag den 14. März 1801.
Geſtern, liebe Roſe, iſt der Hr. von Bielfeld ab von hier nach Amſterdam gereiſt, dem ich ein Billet gegeben, worin ich dir ein wenig aus dem Herzen ſchrieb. Er wird in einigen Wochen ankommen: ſo lange kann ich nicht warten. Laß dir ſagen, mein Kind! — daß ich wieder traurig, ganz traurig bin. Und warum nicht! fehlt mir nicht, trotz den ungeheuren Gaben und Geſchenken, jede Spitze des Glücks? Müſſen „ſie nicht alle verweſen, die Wünſche im Herzen?“ Wird mir wohl Einer frei und ſchön; geht je ein geheimer Wunſch und das Glück zuſammen? mißräth mir nicht alles? Hab’ ich nicht nur etwas, weil ich’s wie eine Art raſender Prieſter mir erreiße; erreiße ich gerne? Habe ich nicht die ruhigſte, ſpielendſte Seele? Habe ich auch nur das Geringſte, wenn ich ruhig bleibe, und ſpielen möchte? Fehlt mir nicht immer der Glanz, und die Spitze der Dinge; ſo daß ich das, was ich habe, ſchätze, und gewiß erkenne, doch nicht genießen — nicht genießen, wie man genießet — kann! Hilft das Über- täuben mit ſich, das Läugnen und Lügen mit Andern, hilft all mein reicher, freier, ergiebiger Geiſt! Iſt man nicht eben ſo arm ohne des Glücks Hülfe, als ohne Gaben der Natur? kann ich mir wohl ſogar noch rein wünſchen — mit Aufge- bung alles andern — bei Hanne’n zu ſein? biſt du nicht weg? verlier ich nicht alles; und muß es Glück nennen! O! trag es wer es will! ich bin, und mag ſo groß nicht ſein. Könnt’ ich wollen, ſo wär’ ich. (Bartholdy und noch ein
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An Roſe, in Amſterdam.
Paris, Sonntag den 14. März 1801.
Geſtern, liebe Roſe, iſt der Hr. von Bielfeld ab von hier
nach Amſterdam gereiſt, dem ich ein Billet gegeben, worin ich
dir ein wenig aus dem Herzen ſchrieb. Er wird in einigen
Wochen ankommen: ſo lange kann ich nicht warten. Laß dir
ſagen, mein Kind! — daß ich wieder traurig, ganz traurig
bin. Und warum nicht! fehlt mir nicht, trotz den ungeheuren
Gaben und Geſchenken, jede Spitze des Glücks? Müſſen
„ſie nicht alle verweſen, die Wünſche im Herzen?“ Wird
mir wohl Einer frei und ſchön; geht je ein geheimer Wunſch
und das Glück zuſammen? mißräth mir nicht alles? Hab’
ich nicht nur etwas, weil ich’s wie eine Art raſender Prieſter
mir erreiße; erreiße ich gerne? Habe ich nicht die ruhigſte,
ſpielendſte Seele? Habe ich auch nur das Geringſte, wenn
ich ruhig bleibe, und ſpielen möchte? Fehlt mir nicht immer
der Glanz, und die Spitze der Dinge; ſo daß ich das, was
ich habe, ſchätze, und gewiß erkenne, doch nicht genießen —
nicht genießen, wie man genießet — kann! Hilft das Über-
täuben mit ſich, das Läugnen und Lügen mit Andern, hilft
all mein reicher, freier, ergiebiger Geiſt! Iſt man nicht eben
ſo arm ohne des Glücks Hülfe, als ohne Gaben der Natur?
kann ich mir wohl ſogar noch rein wünſchen — mit Aufge-
bung alles andern — bei Hanne’n zu ſein? biſt du nicht
weg? verlier ich nicht alles; und muß es Glück nennen! O!
trag es wer es will! ich bin, und mag ſo groß nicht ſein.
Könnt’ ich wollen, ſo wär’ ich. (Bartholdy und noch ein
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/246>, abgerufen am 25.11.2024.
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