wahr, ist zu übersetzen. Lächlen Sie, oder fühlen Sie Thrä- nen aus Mitleid, ich kann Ihnen jedes Übel, jedes Unheil, jeden Verdruß, da herleiten: und mich dekontenancirt's nicht, lächerlich in eines Andern Augen zu sein. Diese Meinung ist mein Wesen; und das muß ich Ihnen klar beweisen, eh' ich sterbe. Die Satisfaktion kann ich mir nicht versagen. Ich will mir in Ihrem Namen antworten, und die Vernunft aus Ihrem Munde reden lassen. "In," würden Sie sagen, "es ist Ihnen das größte Unglück widerfahren, was Sie nur tref- fen konnte, Sie sind lahm: aber hören Sie, sehen Sie, schmek- ken Sie, wenn Sie immer Ihren Fuß betrachten, so sind Sie's ja selbst, die sich lahm machen." Ja, wenn ich aus der Welt leben könnte, ohne Sitten, ohne Verhältnisse, fleißig in einem Dorf. Ja, würde der Lahme sagen, wenn ich nicht zu gehen nöthig hätte; ich habe aber nicht zu leben, und jeder Schritt, den ich machen will, und nicht kann, erinnert mich nicht an die allgemeinen Übel der Menschen, gegen die ich gehen will, sondern ich fühle mein besonder Unglück noch, und doppelt und zehnfach, und eins erhöht mir immer das andere. Wie häßlich bin ich nicht dabei; ist denn die Welt klug, sagt man denn: "Der Arme ist lahm, bringen wir dem Armen das ent- gegen, ach wie schwer muß ihm jeder Tritt werden, man sieht's!" Nein; sie achten seine Tritte nicht, weil sie sie nicht machen, sie finden sie häßlich, weil sie sie sehen, und bringen ihm nichts entgegen, weil ihnen seine Mühe nichts schadet, und ihre eigne ihnen entsetzlich ist. Und der Lahme, zu gehen gezwungen, sollte nicht unglücklich sein? Hab' ich je ein lah- mes Gleichniß gesehen, so ist es dieses; es hinkt so, daß man
wahr, iſt zu überſetzen. Lächlen Sie, oder fühlen Sie Thrä- nen aus Mitleid, ich kann Ihnen jedes Übel, jedes Unheil, jeden Verdruß, da herleiten: und mich dekontenancirt’s nicht, lächerlich in eines Andern Augen zu ſein. Dieſe Meinung iſt mein Weſen; und das muß ich Ihnen klar beweiſen, eh’ ich ſterbe. Die Satisfaktion kann ich mir nicht verſagen. Ich will mir in Ihrem Namen antworten, und die Vernunft aus Ihrem Munde reden laſſen. „In,“ würden Sie ſagen, „es iſt Ihnen das größte Unglück widerfahren, was Sie nur tref- fen konnte, Sie ſind lahm: aber hören Sie, ſehen Sie, ſchmek- ken Sie, wenn Sie immer Ihren Fuß betrachten, ſo ſind Sie’s ja ſelbſt, die ſich lahm machen.“ Ja, wenn ich aus der Welt leben könnte, ohne Sitten, ohne Verhältniſſe, fleißig in einem Dorf. Ja, würde der Lahme ſagen, wenn ich nicht zu gehen nöthig hätte; ich habe aber nicht zu leben, und jeder Schritt, den ich machen will, und nicht kann, erinnert mich nicht an die allgemeinen Übel der Menſchen, gegen die ich gehen will, ſondern ich fühle mein beſonder Unglück noch, und doppelt und zehnfach, und eins erhöht mir immer das andere. Wie häßlich bin ich nicht dabei; iſt denn die Welt klug, ſagt man denn: „Der Arme iſt lahm, bringen wir dem Armen das ent- gegen, ach wie ſchwer muß ihm jeder Tritt werden, man ſieht’s!“ Nein; ſie achten ſeine Tritte nicht, weil ſie ſie nicht machen, ſie finden ſie häßlich, weil ſie ſie ſehen, und bringen ihm nichts entgegen, weil ihnen ſeine Mühe nichts ſchadet, und ihre eigne ihnen entſetzlich iſt. Und der Lahme, zu gehen gezwungen, ſollte nicht unglücklich ſein? Hab’ ich je ein lah- mes Gleichniß geſehen, ſo iſt es dieſes; es hinkt ſo, daß man
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wahr, iſt zu überſetzen. Lächlen Sie, oder fühlen Sie Thrä-
nen aus Mitleid, ich kann Ihnen jedes Übel, jedes Unheil,
jeden Verdruß, da herleiten: und mich dekontenancirt’s nicht,
lächerlich in eines Andern Augen zu ſein. Dieſe Meinung iſt
mein Weſen; und das muß ich Ihnen klar beweiſen, eh’ ich
ſterbe. Die Satisfaktion kann ich mir nicht verſagen. Ich
will mir in Ihrem Namen antworten, und die Vernunft aus
Ihrem Munde reden laſſen. „In,“ würden Sie ſagen, „es
iſt Ihnen das größte Unglück widerfahren, was Sie nur tref-
fen konnte, Sie ſind lahm: aber hören Sie, ſehen Sie, ſchmek-
ken Sie, wenn Sie immer Ihren Fuß betrachten, ſo ſind Sie’s
ja ſelbſt, die ſich lahm machen.“ Ja, wenn ich aus der Welt
leben könnte, ohne Sitten, ohne Verhältniſſe, fleißig in einem
Dorf. Ja, würde der Lahme ſagen, wenn ich nicht zu gehen
nöthig hätte; ich habe aber nicht zu leben, und jeder Schritt,
den ich machen will, und nicht kann, erinnert mich nicht an
die allgemeinen Übel der Menſchen, gegen die ich gehen will,
ſondern ich fühle mein beſonder Unglück noch, und doppelt
und zehnfach, und eins erhöht mir immer das andere. Wie
häßlich bin ich nicht dabei; iſt denn die Welt klug, ſagt man
denn: „Der Arme iſt lahm, bringen wir dem Armen das ent-
gegen, ach wie ſchwer muß ihm jeder Tritt werden, man
ſieht’s!“ Nein; ſie achten ſeine Tritte nicht, weil ſie ſie nicht
machen, ſie finden ſie häßlich, weil ſie ſie ſehen, und bringen
ihm nichts entgegen, weil ihnen ſeine Mühe nichts ſchadet,
und ihre eigne ihnen entſetzlich iſt. Und der Lahme, zu gehen
gezwungen, ſollte nicht unglücklich ſein? Hab’ ich je ein lah-
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/148>, abgerufen am 21.12.2024.
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