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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

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wo man sich Luft, Speise und Gefährten selbst suchen darf:
das frische gesunde, sich nie trügende Herz wird Begierde ge-
nannt, nach einer Art von Kinderstube, Kerker oder Tollhaus
verwiesen: und so gehen wir grau durch Städte nach dem
Kirchhof. Gott, wie komm' ich darauf! Ich will es Ihnen
sagen. Ich fühle eine ganze Thränenfluth in der Brust über
dem Herzen; und jedes erinnert mich an alles. Nichts er-
scheint mir mehr einzeln: ich fühle mich ganz gefangen, und
mein Geist ist reger, als je. Mit dem höhern Leben tröst'
ich mich nicht! Ein schönes Erdenleben würde das nicht
ausschließen. Es erhöht und schärft jeder Augenblick mir
das immer inniger tiefe Gefühl des unzufassenden Verlustes!
unsere Organe sind zu endlich, es zu fassen; und höhere Wesen
haben gewiß eine Trauer über uns, deren wir unfähig sind,
und die ich wie errechne! -- das Kälteste, das Wenigste,
was Menschenkinder können -- der große Schmerz, der große
Verlust, die Unmöglichkeit, sich aus der vorgefundenen Ver-
wirrung anders, als sterbend, abscheidend, trennend, verein-
zelt, zu scheiden, macht den Tod ja nur möglich. Verstehen
Sie dies so umfassend, als Sie können: in Bezug auf Men-
schenverkehr, auf die tiefsten Anlagen und Bedürfnisse des
Herzens, auf die Natur, die wir einstweilen die todte nennen,
auf jede Organisation. Sie sehen, ich weiß es wohl, warum
Sie mir nicht schreiben. Sie haben ein großes Glück. Seiner
Geschichte nach, wovon man die letzte unverstandene Ankunft
der Erscheinung chance nennt, und seinem innern unendlichen
Werthe nach! Welche Freundin haben Sie gewählt, gefun-
den und empfunden! Ich verstehe einen Menschen, Sie ganz.

wo man ſich Luft, Speiſe und Gefährten ſelbſt ſuchen darf:
das friſche geſunde, ſich nie trügende Herz wird Begierde ge-
nannt, nach einer Art von Kinderſtube, Kerker oder Tollhaus
verwieſen: und ſo gehen wir grau durch Städte nach dem
Kirchhof. Gott, wie komm’ ich darauf! Ich will es Ihnen
ſagen. Ich fühle eine ganze Thränenfluth in der Bruſt über
dem Herzen; und jedes erinnert mich an alles. Nichts er-
ſcheint mir mehr einzeln: ich fühle mich ganz gefangen, und
mein Geiſt iſt reger, als je. Mit dem höhern Leben tröſt’
ich mich nicht! Ein ſchönes Erdenleben würde das nicht
ausſchließen. Es erhöht und ſchärft jeder Augenblick mir
das immer inniger tiefe Gefühl des unzufaſſenden Verluſtes!
unſere Organe ſind zu endlich, es zu faſſen; und höhere Weſen
haben gewiß eine Trauer über uns, deren wir unfähig ſind,
und die ich wie errechne! — das Kälteſte, das Wenigſte,
was Menſchenkinder können — der große Schmerz, der große
Verluſt, die Unmöglichkeit, ſich aus der vorgefundenen Ver-
wirrung anders, als ſterbend, abſcheidend, trennend, verein-
zelt, zu ſcheiden, macht den Tod ja nur möglich. Verſtehen
Sie dies ſo umfaſſend, als Sie können: in Bezug auf Men-
ſchenverkehr, auf die tiefſten Anlagen und Bedürfniſſe des
Herzens, auf die Natur, die wir einſtweilen die todte nennen,
auf jede Organiſation. Sie ſehen, ich weiß es wohl, warum
Sie mir nicht ſchreiben. Sie haben ein großes Glück. Seiner
Geſchichte nach, wovon man die letzte unverſtandene Ankunft
der Erſcheinung chance nennt, und ſeinem innern unendlichen
Werthe nach! Welche Freundin haben Sie gewählt, gefun-
den und empfunden! Ich verſtehe einen Menſchen, Sie ganz.

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[265/0279] wo man ſich Luft, Speiſe und Gefährten ſelbſt ſuchen darf: das friſche geſunde, ſich nie trügende Herz wird Begierde ge- nannt, nach einer Art von Kinderſtube, Kerker oder Tollhaus verwieſen: und ſo gehen wir grau durch Städte nach dem Kirchhof. Gott, wie komm’ ich darauf! Ich will es Ihnen ſagen. Ich fühle eine ganze Thränenfluth in der Bruſt über dem Herzen; und jedes erinnert mich an alles. Nichts er- ſcheint mir mehr einzeln: ich fühle mich ganz gefangen, und mein Geiſt iſt reger, als je. Mit dem höhern Leben tröſt’ ich mich nicht! Ein ſchönes Erdenleben würde das nicht ausſchließen. Es erhöht und ſchärft jeder Augenblick mir das immer inniger tiefe Gefühl des unzufaſſenden Verluſtes! unſere Organe ſind zu endlich, es zu faſſen; und höhere Weſen haben gewiß eine Trauer über uns, deren wir unfähig ſind, und die ich wie errechne! — das Kälteſte, das Wenigſte, was Menſchenkinder können — der große Schmerz, der große Verluſt, die Unmöglichkeit, ſich aus der vorgefundenen Ver- wirrung anders, als ſterbend, abſcheidend, trennend, verein- zelt, zu ſcheiden, macht den Tod ja nur möglich. Verſtehen Sie dies ſo umfaſſend, als Sie können: in Bezug auf Men- ſchenverkehr, auf die tiefſten Anlagen und Bedürfniſſe des Herzens, auf die Natur, die wir einſtweilen die todte nennen, auf jede Organiſation. Sie ſehen, ich weiß es wohl, warum Sie mir nicht ſchreiben. Sie haben ein großes Glück. Seiner Geſchichte nach, wovon man die letzte unverſtandene Ankunft der Erſcheinung chance nennt, und ſeinem innern unendlichen Werthe nach! Welche Freundin haben Sie gewählt, gefun- den und empfunden! Ich verſtehe einen Menſchen, Sie ganz.

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/279>, abgerufen am 27.11.2024.