Dienstag, im Anfang Juli's 1800. Als L. wegreiste.
Vor einer Stunde kam L. noch ganz unerwartet, denn er sollte seiner Aussage nach, schon diese Nacht gereist sein. Ich hätte gewünscht, ihm mehr zu gefallen, und mehr mit ihm zu leben: beides ging nicht. Doch lebten wir nicht deßhalb wenig miteinander, weil ich ihm nicht gefiel, sondern, ich gefiel ihm nicht, weil wir zu wenig miteinander lebten. Ich erkannt' ihn gleich, und unwiderruflich für edel; du hattest mir ihn auf eine Art bezeichnet, wie ich zu thun pflege, wenn ich will, daß Zeit gespart werden, und alles gleich richtig sein soll: er war offen gegen mich, und behandelte mich auch wie einen Edlen. Nichts besticht, nichts fordert mich mehr auf, nichts gewinnt mich schneller, nichts reizt mich so. Ich trat ihm mit offnen Armen und Herzen entgegen: ich wollt' ihm all meine Zeit, seines ganzen Hierseins, widmen; am meisten um ihn schnell das Beste von Berlin genießen zu lassen. Seine Zeit war aber anders besetzt. Er hatte andere Wünsche; legte sich Pflichten auf -- war sein eigner Lohnlakai -- ließ sich Zeit auf alle Art stehlen: und ich sah' ihn kaum. Alle Ver- sprechen schienen ihm heilig, außer die mir gegebenen: und ich konnte nie unterscheiden, ob er sie mir nicht ganz fest gege- ben; oder ob er sie mir nur nachher so auslegte. Mir schien das Erste: aber ich glaubte ihm, weil ich nie so etwas weiß; und es auch am Ende gleich ist, ob er nicht fest versprach, oder nicht fest hielt. In beiden Fällen will man nicht zu
An Frau von Boye, in Stralſund.
Dienstag, im Anfang Juli’s 1800. Als L. wegreiſte.
Vor einer Stunde kam L. noch ganz unerwartet, denn er ſollte ſeiner Ausſage nach, ſchon dieſe Nacht gereiſt ſein. Ich hätte gewünſcht, ihm mehr zu gefallen, und mehr mit ihm zu leben: beides ging nicht. Doch lebten wir nicht deßhalb wenig miteinander, weil ich ihm nicht gefiel, ſondern, ich gefiel ihm nicht, weil wir zu wenig miteinander lebten. Ich erkannt’ ihn gleich, und unwiderruflich für edel; du hatteſt mir ihn auf eine Art bezeichnet, wie ich zu thun pflege, wenn ich will, daß Zeit geſpart werden, und alles gleich richtig ſein ſoll: er war offen gegen mich, und behandelte mich auch wie einen Edlen. Nichts beſticht, nichts fordert mich mehr auf, nichts gewinnt mich ſchneller, nichts reizt mich ſo. Ich trat ihm mit offnen Armen und Herzen entgegen: ich wollt’ ihm all meine Zeit, ſeines ganzen Hierſeins, widmen; am meiſten um ihn ſchnell das Beſte von Berlin genießen zu laſſen. Seine Zeit war aber anders beſetzt. Er hatte andere Wünſche; legte ſich Pflichten auf — war ſein eigner Lohnlakai — ließ ſich Zeit auf alle Art ſtehlen: und ich ſah’ ihn kaum. Alle Ver- ſprechen ſchienen ihm heilig, außer die mir gegebenen: und ich konnte nie unterſcheiden, ob er ſie mir nicht ganz feſt gege- ben; oder ob er ſie mir nur nachher ſo auslegte. Mir ſchien das Erſte: aber ich glaubte ihm, weil ich nie ſo etwas weiß; und es auch am Ende gleich iſt, ob er nicht feſt verſprach, oder nicht feſt hielt. In beiden Fällen will man nicht zu
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An Frau von Boye, in Stralſund.
Dienstag, im Anfang Juli’s 1800.
Als L. wegreiſte.
Vor einer Stunde kam L. noch ganz unerwartet, denn er
ſollte ſeiner Ausſage nach, ſchon dieſe Nacht gereiſt ſein. Ich
hätte gewünſcht, ihm mehr zu gefallen, und mehr mit ihm zu
leben: beides ging nicht. Doch lebten wir nicht deßhalb wenig
miteinander, weil ich ihm nicht gefiel, ſondern, ich gefiel ihm
nicht, weil wir zu wenig miteinander lebten. Ich erkannt’
ihn gleich, und unwiderruflich für edel; du hatteſt mir ihn
auf eine Art bezeichnet, wie ich zu thun pflege, wenn ich will,
daß Zeit geſpart werden, und alles gleich richtig ſein ſoll: er
war offen gegen mich, und behandelte mich auch wie einen
Edlen. Nichts beſticht, nichts fordert mich mehr auf, nichts
gewinnt mich ſchneller, nichts reizt mich ſo. Ich trat ihm mit
offnen Armen und Herzen entgegen: ich wollt’ ihm all meine
Zeit, ſeines ganzen Hierſeins, widmen; am meiſten um ihn
ſchnell das Beſte von Berlin genießen zu laſſen. Seine Zeit
war aber anders beſetzt. Er hatte andere Wünſche; legte
ſich Pflichten auf — war ſein eigner Lohnlakai — ließ ſich
Zeit auf alle Art ſtehlen: und ich ſah’ ihn kaum. Alle Ver-
ſprechen ſchienen ihm heilig, außer die mir gegebenen: und ich
konnte nie unterſcheiden, ob er ſie mir nicht ganz feſt gege-
ben; oder ob er ſie mir nur nachher ſo auslegte. Mir ſchien
das Erſte: aber ich glaubte ihm, weil ich nie ſo etwas weiß;
und es auch am Ende gleich iſt, ob er nicht feſt verſprach,
oder nicht feſt hielt. In beiden Fällen will man nicht zu
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/219>, abgerufen am 27.11.2024.
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