Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite
An Frau von Boye, in Stralsund.


Vor einer Stunde kam L. noch ganz unerwartet, denn er
sollte seiner Aussage nach, schon diese Nacht gereist sein. Ich
hätte gewünscht, ihm mehr zu gefallen, und mehr mit ihm zu
leben: beides ging nicht. Doch lebten wir nicht deßhalb wenig
miteinander, weil ich ihm nicht gefiel, sondern, ich gefiel ihm
nicht, weil wir zu wenig miteinander lebten. Ich erkannt'
ihn gleich, und unwiderruflich für edel; du hattest mir ihn
auf eine Art bezeichnet, wie ich zu thun pflege, wenn ich will,
daß Zeit gespart werden, und alles gleich richtig sein soll: er
war offen gegen mich, und behandelte mich auch wie einen
Edlen. Nichts besticht, nichts fordert mich mehr auf, nichts
gewinnt mich schneller, nichts reizt mich so. Ich trat ihm mit
offnen Armen und Herzen entgegen: ich wollt' ihm all meine
Zeit, seines ganzen Hierseins, widmen; am meisten um ihn
schnell das Beste von Berlin genießen zu lassen. Seine Zeit
war aber anders besetzt. Er hatte andere Wünsche; legte
sich Pflichten auf -- war sein eigner Lohnlakai -- ließ sich
Zeit auf alle Art stehlen: und ich sah' ihn kaum. Alle Ver-
sprechen schienen ihm heilig, außer die mir gegebenen: und ich
konnte nie unterscheiden, ob er sie mir nicht ganz fest gege-
ben; oder ob er sie mir nur nachher so auslegte. Mir schien
das Erste: aber ich glaubte ihm, weil ich nie so etwas weiß;
und es auch am Ende gleich ist, ob er nicht fest versprach,
oder nicht fest hielt. In beiden Fällen will man nicht zu

An Frau von Boye, in Stralſund.


Vor einer Stunde kam L. noch ganz unerwartet, denn er
ſollte ſeiner Ausſage nach, ſchon dieſe Nacht gereiſt ſein. Ich
hätte gewünſcht, ihm mehr zu gefallen, und mehr mit ihm zu
leben: beides ging nicht. Doch lebten wir nicht deßhalb wenig
miteinander, weil ich ihm nicht gefiel, ſondern, ich gefiel ihm
nicht, weil wir zu wenig miteinander lebten. Ich erkannt’
ihn gleich, und unwiderruflich für edel; du hatteſt mir ihn
auf eine Art bezeichnet, wie ich zu thun pflege, wenn ich will,
daß Zeit geſpart werden, und alles gleich richtig ſein ſoll: er
war offen gegen mich, und behandelte mich auch wie einen
Edlen. Nichts beſticht, nichts fordert mich mehr auf, nichts
gewinnt mich ſchneller, nichts reizt mich ſo. Ich trat ihm mit
offnen Armen und Herzen entgegen: ich wollt’ ihm all meine
Zeit, ſeines ganzen Hierſeins, widmen; am meiſten um ihn
ſchnell das Beſte von Berlin genießen zu laſſen. Seine Zeit
war aber anders beſetzt. Er hatte andere Wünſche; legte
ſich Pflichten auf — war ſein eigner Lohnlakai — ließ ſich
Zeit auf alle Art ſtehlen: und ich ſah’ ihn kaum. Alle Ver-
ſprechen ſchienen ihm heilig, außer die mir gegebenen: und ich
konnte nie unterſcheiden, ob er ſie mir nicht ganz feſt gege-
ben; oder ob er ſie mir nur nachher ſo auslegte. Mir ſchien
das Erſte: aber ich glaubte ihm, weil ich nie ſo etwas weiß;
und es auch am Ende gleich iſt, ob er nicht feſt verſprach,
oder nicht feſt hielt. In beiden Fällen will man nicht zu

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0219" n="205"/>
        <div n="2">
          <head>An Frau von Boye, in Stral&#x017F;und.</head><lb/>
          <dateline> <hi rendition="#et">Dienstag, im Anfang Juli&#x2019;s 1800.<lb/>
Als L. wegrei&#x017F;te.</hi> </dateline><lb/>
          <p>Vor einer Stunde kam L. noch ganz unerwartet, denn er<lb/>
&#x017F;ollte &#x017F;einer Aus&#x017F;age nach, &#x017F;chon die&#x017F;e Nacht gerei&#x017F;t &#x017F;ein. Ich<lb/>
hätte gewün&#x017F;cht, ihm mehr zu gefallen, und mehr mit ihm zu<lb/>
leben: beides ging nicht. Doch lebten wir nicht deßhalb wenig<lb/>
miteinander, weil ich ihm nicht gefiel, &#x017F;ondern, ich gefiel ihm<lb/>
nicht, weil wir zu wenig miteinander lebten. Ich erkannt&#x2019;<lb/>
ihn gleich, und unwiderruflich für edel; du hatte&#x017F;t mir ihn<lb/>
auf eine Art bezeichnet, wie ich zu thun pflege, wenn ich will,<lb/>
daß Zeit ge&#x017F;part werden, und alles gleich richtig &#x017F;ein &#x017F;oll: er<lb/>
war offen gegen mich, und behandelte mich auch wie einen<lb/>
Edlen. Nichts be&#x017F;ticht, nichts fordert mich mehr auf, nichts<lb/>
gewinnt mich &#x017F;chneller, nichts reizt mich &#x017F;o. Ich trat ihm mit<lb/>
offnen Armen und Herzen entgegen: ich wollt&#x2019; ihm all meine<lb/>
Zeit, &#x017F;eines ganzen Hier&#x017F;eins, widmen; am <hi rendition="#g">mei&#x017F;ten</hi> um ihn<lb/>
&#x017F;chnell das Be&#x017F;te von Berlin genießen zu la&#x017F;&#x017F;en. Seine Zeit<lb/>
war aber anders be&#x017F;etzt. Er hatte andere <hi rendition="#g">Wün&#x017F;che</hi>; legte<lb/>
&#x017F;ich Pflichten auf &#x2014; war &#x017F;ein eigner Lohnlakai &#x2014; ließ &#x017F;ich<lb/>
Zeit auf alle Art &#x017F;tehlen: und ich &#x017F;ah&#x2019; ihn <hi rendition="#g">kaum</hi>. Alle Ver-<lb/>
&#x017F;prechen &#x017F;chienen ihm heilig, außer die mir gegebenen: und ich<lb/>
konnte nie unter&#x017F;cheiden, ob er &#x017F;ie mir nicht ganz fe&#x017F;t gege-<lb/>
ben; oder ob er &#x017F;ie mir nur nachher &#x017F;o auslegte. Mir &#x017F;chien<lb/>
das Er&#x017F;te: aber ich glaubte <hi rendition="#g">ihm</hi>, weil ich nie &#x017F;o etwas weiß;<lb/>
und es auch am Ende gleich i&#x017F;t, ob er nicht fe&#x017F;t ver&#x017F;prach,<lb/>
oder nicht fe&#x017F;t hielt. In beiden Fällen <hi rendition="#g">will</hi> man nicht <hi rendition="#g">zu<lb/></hi></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[205/0219] An Frau von Boye, in Stralſund. Dienstag, im Anfang Juli’s 1800. Als L. wegreiſte. Vor einer Stunde kam L. noch ganz unerwartet, denn er ſollte ſeiner Ausſage nach, ſchon dieſe Nacht gereiſt ſein. Ich hätte gewünſcht, ihm mehr zu gefallen, und mehr mit ihm zu leben: beides ging nicht. Doch lebten wir nicht deßhalb wenig miteinander, weil ich ihm nicht gefiel, ſondern, ich gefiel ihm nicht, weil wir zu wenig miteinander lebten. Ich erkannt’ ihn gleich, und unwiderruflich für edel; du hatteſt mir ihn auf eine Art bezeichnet, wie ich zu thun pflege, wenn ich will, daß Zeit geſpart werden, und alles gleich richtig ſein ſoll: er war offen gegen mich, und behandelte mich auch wie einen Edlen. Nichts beſticht, nichts fordert mich mehr auf, nichts gewinnt mich ſchneller, nichts reizt mich ſo. Ich trat ihm mit offnen Armen und Herzen entgegen: ich wollt’ ihm all meine Zeit, ſeines ganzen Hierſeins, widmen; am meiſten um ihn ſchnell das Beſte von Berlin genießen zu laſſen. Seine Zeit war aber anders beſetzt. Er hatte andere Wünſche; legte ſich Pflichten auf — war ſein eigner Lohnlakai — ließ ſich Zeit auf alle Art ſtehlen: und ich ſah’ ihn kaum. Alle Ver- ſprechen ſchienen ihm heilig, außer die mir gegebenen: und ich konnte nie unterſcheiden, ob er ſie mir nicht ganz feſt gege- ben; oder ob er ſie mir nur nachher ſo auslegte. Mir ſchien das Erſte: aber ich glaubte ihm, weil ich nie ſo etwas weiß; und es auch am Ende gleich iſt, ob er nicht feſt verſprach, oder nicht feſt hielt. In beiden Fällen will man nicht zu

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/219
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/219>, abgerufen am 27.11.2024.