Kinder sehr, die mich öfters besuchen. Man bleibt bei Froriep bis in die Nacht hinein, das heißt bis nach 10 Uhr, freilich auf die Gefahr, als Nachtschwärmer, auf der Straße dem Wächter aufzufallen. --
Ich warte das Frühjahr ab, weil ich muß; unter¬ dessen laß' ich es an Fleiß nicht fehlen. Ihr glaubt es nicht, was ich alles treibe, die heterogensten Sachen nebeneinander, und nicht aus willkürlichem Wechsel, nein, sie haben alle ihren nothwendigen Bezug in mir, und was nicht Räderwerk zum Weiterkommen ist, ist Oel zum Räderwerk. Ich habe absatzweise starke medi¬ zinische Arbeiten gemacht, ich habe den ganzen Livius durchgelesen, ich habe Studien zu einem Trauerspiel von unserm Kaiser Heinrich dem Vierten gemacht, und ein paar Novellen, und vielerlei Aufsätze, und unzählige Briefe geschrieben; mehr aber noch innerlich mit Welt und Leben, mit Entwürfen und Möglichkeiten mich abgekämpft. Macht jetzt keine Ansprüche an mich, laßt mich gehn! Vielleicht erfüll' ich künftig eure Erwar¬ tungen um so besser. --
Tübingen, Mitte Januars 1809. Kerner, der nach seiner ehrenvollen Doktorpromotion gleich nach Hause ge¬ reist war, ist wiedergekommen, jetzt aber leider krank. Ich bin die Abende immer bei ihm. Autenrieth ist sein Arzt, und bleibt auch ganze Stunden. Da giebt es die lebhaftesten Gespräche: die romantische Schule, die Naturphilosophie, und vor allem das Wunderhorn, wer¬
Kinder ſehr, die mich oͤfters beſuchen. Man bleibt bei Froriep bis in die Nacht hinein, das heißt bis nach 10 Uhr, freilich auf die Gefahr, als Nachtſchwaͤrmer, auf der Straße dem Waͤchter aufzufallen. —
Ich warte das Fruͤhjahr ab, weil ich muß; unter¬ deſſen laß' ich es an Fleiß nicht fehlen. Ihr glaubt es nicht, was ich alles treibe, die heterogenſten Sachen nebeneinander, und nicht aus willkuͤrlichem Wechſel, nein, ſie haben alle ihren nothwendigen Bezug in mir, und was nicht Raͤderwerk zum Weiterkommen iſt, iſt Oel zum Raͤderwerk. Ich habe abſatzweiſe ſtarke medi¬ ziniſche Arbeiten gemacht, ich habe den ganzen Livius durchgeleſen, ich habe Studien zu einem Trauerſpiel von unſerm Kaiſer Heinrich dem Vierten gemacht, und ein paar Novellen, und vielerlei Aufſaͤtze, und unzaͤhlige Briefe geſchrieben; mehr aber noch innerlich mit Welt und Leben, mit Entwuͤrfen und Moͤglichkeiten mich abgekaͤmpft. Macht jetzt keine Anſpruͤche an mich, laßt mich gehn! Vielleicht erfuͤll' ich kuͤnftig eure Erwar¬ tungen um ſo beſſer. —
Tuͤbingen, Mitte Januars 1809. Kerner, der nach ſeiner ehrenvollen Doktorpromotion gleich nach Hauſe ge¬ reiſt war, iſt wiedergekommen, jetzt aber leider krank. Ich bin die Abende immer bei ihm. Autenrieth iſt ſein Arzt, und bleibt auch ganze Stunden. Da giebt es die lebhafteſten Geſpraͤche: die romantiſche Schule, die Naturphiloſophie, und vor allem das Wunderhorn, wer¬
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0132"n="120"/>
Kinder ſehr, die mich oͤfters beſuchen. Man bleibt bei<lb/>
Froriep bis in die Nacht hinein, das heißt bis nach<lb/><hirendition="#b">10</hi> Uhr, freilich auf die Gefahr, als Nachtſchwaͤrmer,<lb/>
auf der Straße dem Waͤchter aufzufallen. —</p><lb/><p>Ich warte das Fruͤhjahr ab, weil ich muß; unter¬<lb/>
deſſen laß' ich es an Fleiß nicht fehlen. Ihr glaubt<lb/>
es nicht, was ich alles treibe, die heterogenſten Sachen<lb/>
nebeneinander, und nicht aus willkuͤrlichem Wechſel,<lb/>
nein, ſie haben alle ihren nothwendigen Bezug in mir,<lb/>
und was nicht Raͤderwerk zum Weiterkommen iſt, iſt<lb/>
Oel zum Raͤderwerk. Ich habe abſatzweiſe ſtarke medi¬<lb/>
ziniſche Arbeiten gemacht, ich habe den ganzen Livius<lb/>
durchgeleſen, ich habe Studien zu einem Trauerſpiel<lb/>
von unſerm Kaiſer Heinrich dem Vierten gemacht, und<lb/>
ein paar Novellen, und vielerlei Aufſaͤtze, und unzaͤhlige<lb/>
Briefe geſchrieben; mehr aber noch innerlich mit Welt<lb/>
und Leben, mit Entwuͤrfen und Moͤglichkeiten mich<lb/>
abgekaͤmpft. Macht jetzt keine Anſpruͤche an mich, laßt<lb/>
mich gehn! Vielleicht erfuͤll' ich kuͤnftig eure Erwar¬<lb/>
tungen um ſo beſſer. —</p><lb/><p>Tuͤbingen, Mitte Januars <hirendition="#b">1809.</hi> Kerner, der nach<lb/>ſeiner ehrenvollen Doktorpromotion gleich nach Hauſe ge¬<lb/>
reiſt war, iſt wiedergekommen, jetzt aber leider krank.<lb/>
Ich bin die Abende immer bei ihm. Autenrieth iſt ſein<lb/>
Arzt, und bleibt auch ganze Stunden. Da giebt es<lb/>
die lebhafteſten Geſpraͤche: die romantiſche Schule, die<lb/>
Naturphiloſophie, und vor allem das Wunderhorn, wer¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[120/0132]
Kinder ſehr, die mich oͤfters beſuchen. Man bleibt bei
Froriep bis in die Nacht hinein, das heißt bis nach
10 Uhr, freilich auf die Gefahr, als Nachtſchwaͤrmer,
auf der Straße dem Waͤchter aufzufallen. —
Ich warte das Fruͤhjahr ab, weil ich muß; unter¬
deſſen laß' ich es an Fleiß nicht fehlen. Ihr glaubt
es nicht, was ich alles treibe, die heterogenſten Sachen
nebeneinander, und nicht aus willkuͤrlichem Wechſel,
nein, ſie haben alle ihren nothwendigen Bezug in mir,
und was nicht Raͤderwerk zum Weiterkommen iſt, iſt
Oel zum Raͤderwerk. Ich habe abſatzweiſe ſtarke medi¬
ziniſche Arbeiten gemacht, ich habe den ganzen Livius
durchgeleſen, ich habe Studien zu einem Trauerſpiel
von unſerm Kaiſer Heinrich dem Vierten gemacht, und
ein paar Novellen, und vielerlei Aufſaͤtze, und unzaͤhlige
Briefe geſchrieben; mehr aber noch innerlich mit Welt
und Leben, mit Entwuͤrfen und Moͤglichkeiten mich
abgekaͤmpft. Macht jetzt keine Anſpruͤche an mich, laßt
mich gehn! Vielleicht erfuͤll' ich kuͤnftig eure Erwar¬
tungen um ſo beſſer. —
Tuͤbingen, Mitte Januars 1809. Kerner, der nach
ſeiner ehrenvollen Doktorpromotion gleich nach Hauſe ge¬
reiſt war, iſt wiedergekommen, jetzt aber leider krank.
Ich bin die Abende immer bei ihm. Autenrieth iſt ſein
Arzt, und bleibt auch ganze Stunden. Da giebt es
die lebhafteſten Geſpraͤche: die romantiſche Schule, die
Naturphiloſophie, und vor allem das Wunderhorn, wer¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 3. Mannheim, 1838, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten03_1838/132>, abgerufen am 05.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.