Laharpe mitgetheilt wird, hat das Ansehen der gröbsten Erfindung, der handgreiflichsten Zusammenstellung nach dem Geschehenen, und doch hörte ich einmal von Schleier¬ macher, dem in Halle auf den Grund dieser Geschichte erzählt wurde, Cazotte habe Scenen der französischen Revolution vorhergesagt, die merkwürdige Aeußerung: "Warum nicht? Ein Mensch, der die Biondetta hat schreiben können, bei dem ist es nicht unglaublich, daß er auch wirklich habe prophezeihen können." Diese Biondetta hab' ich nun seitdem gelesen, und finde das Mährchen ein wahres Kleinod, unbegreiflich in der fran¬ zösischen Litteratur des vorigen Jahrhunderts, vielleicht auch in der That spanischen Ursprungs, wie ja schon der Stoff spanisch ist; aber auf mich macht das Stück nicht einen solchen Eindruck, daß ich jener ungeheuern Folgerung beistimmen könnte. Dagegen ist mir eine Geschichte, welche Jung ebenfalls erzählt, sehr einleuch¬ tend, von einer Frau, die eine Freundin zu sich heran¬ bannt durch den bloßen Willen. Es giebt so etwas; man kann verwandte Sehnsucht fühlen und ihr folgen müssen; ich glaube es. Daß nicht jeder, und nicht immer, so leisen Regungen offen steht, ist so natürlich, als daß nicht jeder in einer Symphonie den leisesten Mißton jedes Instruments heraushört, oder, wie der ausgelernte Spieler, mit den Fingerspitzen ein As und ein Bild unterscheidet. Aber davon will ich eigentlich nicht reden, sondern euch erzählen wie es uns erging.
Laharpe mitgetheilt wird, hat das Anſehen der groͤbſten Erfindung, der handgreiflichſten Zuſammenſtellung nach dem Geſchehenen, und doch hoͤrte ich einmal von Schleier¬ macher, dem in Halle auf den Grund dieſer Geſchichte erzaͤhlt wurde, Cazotte habe Scenen der franzoͤſiſchen Revolution vorhergeſagt, die merkwuͤrdige Aeußerung: „Warum nicht? Ein Menſch, der die Biondetta hat ſchreiben koͤnnen, bei dem iſt es nicht unglaublich, daß er auch wirklich habe prophezeihen koͤnnen.“ Dieſe Biondetta hab' ich nun ſeitdem geleſen, und finde das Maͤhrchen ein wahres Kleinod, unbegreiflich in der fran¬ zoͤſiſchen Litteratur des vorigen Jahrhunderts, vielleicht auch in der That ſpaniſchen Urſprungs, wie ja ſchon der Stoff ſpaniſch iſt; aber auf mich macht das Stuͤck nicht einen ſolchen Eindruck, daß ich jener ungeheuern Folgerung beiſtimmen koͤnnte. Dagegen iſt mir eine Geſchichte, welche Jung ebenfalls erzaͤhlt, ſehr einleuch¬ tend, von einer Frau, die eine Freundin zu ſich heran¬ bannt durch den bloßen Willen. Es giebt ſo etwas; man kann verwandte Sehnſucht fuͤhlen und ihr folgen muͤſſen; ich glaube es. Daß nicht jeder, und nicht immer, ſo leiſen Regungen offen ſteht, iſt ſo natuͤrlich, als daß nicht jeder in einer Symphonie den leiſeſten Mißton jedes Inſtruments heraushoͤrt, oder, wie der ausgelernte Spieler, mit den Fingerſpitzen ein As und ein Bild unterſcheidet. Aber davon will ich eigentlich nicht reden, ſondern euch erzaͤhlen wie es uns erging.
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[109/0121]
Laharpe mitgetheilt wird, hat das Anſehen der groͤbſten
Erfindung, der handgreiflichſten Zuſammenſtellung nach
dem Geſchehenen, und doch hoͤrte ich einmal von Schleier¬
macher, dem in Halle auf den Grund dieſer Geſchichte
erzaͤhlt wurde, Cazotte habe Scenen der franzoͤſiſchen
Revolution vorhergeſagt, die merkwuͤrdige Aeußerung:
„Warum nicht? Ein Menſch, der die Biondetta hat
ſchreiben koͤnnen, bei dem iſt es nicht unglaublich, daß
er auch wirklich habe prophezeihen koͤnnen.“ Dieſe
Biondetta hab' ich nun ſeitdem geleſen, und finde das
Maͤhrchen ein wahres Kleinod, unbegreiflich in der fran¬
zoͤſiſchen Litteratur des vorigen Jahrhunderts, vielleicht
auch in der That ſpaniſchen Urſprungs, wie ja ſchon
der Stoff ſpaniſch iſt; aber auf mich macht das Stuͤck
nicht einen ſolchen Eindruck, daß ich jener ungeheuern
Folgerung beiſtimmen koͤnnte. Dagegen iſt mir eine
Geſchichte, welche Jung ebenfalls erzaͤhlt, ſehr einleuch¬
tend, von einer Frau, die eine Freundin zu ſich heran¬
bannt durch den bloßen Willen. Es giebt ſo etwas;
man kann verwandte Sehnſucht fuͤhlen und ihr folgen
muͤſſen; ich glaube es. Daß nicht jeder, und nicht
immer, ſo leiſen Regungen offen ſteht, iſt ſo natuͤrlich,
als daß nicht jeder in einer Symphonie den leiſeſten
Mißton jedes Inſtruments heraushoͤrt, oder, wie der
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 3. Mannheim, 1838, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten03_1838/121>, abgerufen am 05.12.2024.
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