glaube, mir dem Norddeutschen zu Ehren wurde die Hausordnung verändert, und Thee getrunken, um 6 Uhr, dann aber auch unerbittlich geeilt zum Nachtessen, und um 9 Uhr fand ich, daß es hohe Zeit sei zu gehen; um 8 hatte schon der Nachtwächter gerufen; -- früher rief er um 7, aber der jetzige Ortsbeamte wollte es nicht mehr leiden. --
Wir finden die Stadt mit ihren Straßen und Häu¬ sern abscheulich, ein schmutziges Nest, schwarz, klein, baufällig; die Stuben, die man uns anbietet, sehen schrecklich aus, mittelalterige Fensterchen, schiefe Fu߬ böden, klapprige Thüren; zwei Stühle, ein Tisch, ein Bett, und einige Nägel, um Kleider oder auch sich selbst daran aufzuhängen, sind die Möbel. Was man verlangt, ist nicht zu haben, fremd, vom Hörensagen bekannt; man schämt sich, man scheint sich frech, so viele Ansprüche zu machen. Dagegen ist die Landschaft prächtig, das Neckarthal und das Ammerthal laden zu den schön¬ sten Spaziergängen ein, die Hügel bieten die reichsten Aussichten, die ganze Gegend hat einen lieblich schwer¬ müthigen Karakter. Man zeigt ein Gartenhäuschen vor der Stadt, wo Wieland gedichtet haben soll. Wie rei¬ zend fänden wir dieses Stück Natur, wie genügend diesen beschränkten Umfang, könnten wir unser berlinisch Leben darin fortführen!
Tübingen, Mittwoch den 16. November 1808. Nun haben wir schon mehrere Bekanntschaften gemacht. Ein
glaube, mir dem Norddeutſchen zu Ehren wurde die Hausordnung veraͤndert, und Thee getrunken, um 6 Uhr, dann aber auch unerbittlich geeilt zum Nachteſſen, und um 9 Uhr fand ich, daß es hohe Zeit ſei zu gehen; um 8 hatte ſchon der Nachtwaͤchter gerufen; — fruͤher rief er um 7, aber der jetzige Ortsbeamte wollte es nicht mehr leiden. —
Wir finden die Stadt mit ihren Straßen und Haͤu¬ ſern abſcheulich, ein ſchmutziges Neſt, ſchwarz, klein, baufaͤllig; die Stuben, die man uns anbietet, ſehen ſchrecklich aus, mittelalterige Fenſterchen, ſchiefe Fu߬ boͤden, klapprige Thuͤren; zwei Stuͤhle, ein Tiſch, ein Bett, und einige Naͤgel, um Kleider oder auch ſich ſelbſt daran aufzuhaͤngen, ſind die Moͤbel. Was man verlangt, iſt nicht zu haben, fremd, vom Hoͤrenſagen bekannt; man ſchaͤmt ſich, man ſcheint ſich frech, ſo viele Anſpruͤche zu machen. Dagegen iſt die Landſchaft praͤchtig, das Neckarthal und das Ammerthal laden zu den ſchoͤn¬ ſten Spaziergaͤngen ein, die Huͤgel bieten die reichſten Ausſichten, die ganze Gegend hat einen lieblich ſchwer¬ muͤthigen Karakter. Man zeigt ein Gartenhaͤuschen vor der Stadt, wo Wieland gedichtet haben ſoll. Wie rei¬ zend faͤnden wir dieſes Stuͤck Natur, wie genuͤgend dieſen beſchraͤnkten Umfang, koͤnnten wir unſer berliniſch Leben darin fortfuͤhren!
Tuͤbingen, Mittwoch den 16. November 1808. Nun haben wir ſchon mehrere Bekanntſchaften gemacht. Ein
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[92/0104]
glaube, mir dem Norddeutſchen zu Ehren wurde die
Hausordnung veraͤndert, und Thee getrunken, um 6 Uhr,
dann aber auch unerbittlich geeilt zum Nachteſſen, und
um 9 Uhr fand ich, daß es hohe Zeit ſei zu gehen; um
8 hatte ſchon der Nachtwaͤchter gerufen; — fruͤher rief
er um 7, aber der jetzige Ortsbeamte wollte es nicht
mehr leiden. —
Wir finden die Stadt mit ihren Straßen und Haͤu¬
ſern abſcheulich, ein ſchmutziges Neſt, ſchwarz, klein,
baufaͤllig; die Stuben, die man uns anbietet, ſehen
ſchrecklich aus, mittelalterige Fenſterchen, ſchiefe Fu߬
boͤden, klapprige Thuͤren; zwei Stuͤhle, ein Tiſch, ein
Bett, und einige Naͤgel, um Kleider oder auch ſich
ſelbſt daran aufzuhaͤngen, ſind die Moͤbel. Was man
verlangt, iſt nicht zu haben, fremd, vom Hoͤrenſagen
bekannt; man ſchaͤmt ſich, man ſcheint ſich frech, ſo viele
Anſpruͤche zu machen. Dagegen iſt die Landſchaft praͤchtig,
das Neckarthal und das Ammerthal laden zu den ſchoͤn¬
ſten Spaziergaͤngen ein, die Huͤgel bieten die reichſten
Ausſichten, die ganze Gegend hat einen lieblich ſchwer¬
muͤthigen Karakter. Man zeigt ein Gartenhaͤuschen vor
der Stadt, wo Wieland gedichtet haben ſoll. Wie rei¬
zend faͤnden wir dieſes Stuͤck Natur, wie genuͤgend
dieſen beſchraͤnkten Umfang, koͤnnten wir unſer berliniſch
Leben darin fortfuͤhren!
Tuͤbingen, Mittwoch den 16. November 1808. Nun
haben wir ſchon mehrere Bekanntſchaften gemacht. Ein
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 3. Mannheim, 1838, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten03_1838/104>, abgerufen am 05.12.2024.
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