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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837.

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zuckten, die wegen des Weitergehens bedenklich machen
konnten, denn eine der ersten Wirkungen unsrer wett¬
eifernden Thätigkeit mußte sein, daß wir gewahr wur¬
den, wir seien bisher, wie in der Litteratur, so auch
im Leben, allzu zahm und billig gewesen, und nun
annahmen, wir dürften vieles keck als gemein und ge¬
ring verwerfen, was wir bisher geachtet, und müßten
uns, um nicht als geduldige Hasenfüße zu gelten, als
stößige Böcke gebärden. Die Schlegel'schen Gesinnun¬
gen und Beispiele hatten viel Verführerisches für junge
Leute, welchen, bei schon befestigter Bildung, ihre ab¬
getragenen Unarten als etwas doch vielleicht Geniales
zum nochmaligen Wiederanprobiren noch nicht zu entfernt
lagen. Aber wir hielten, gutgeartet und brav, uns bei
allen Lockungen doch bescheiden genug. --

In diese chaotische Gährung, aus der sich nach Zu¬
fall und ohne Ziel und Ordnung alles neu gestalten
sollte, fiel uns zum Glück bald ein stärkeres Licht der
Autorität, durch welche, neben so vielem Schwankenden
und Verworrenen, auch wieder Festigkeit und Zusammen¬
hang vor Augen stand. Ich lernte nämlich Fichte'n
kennen. Eine Dame, die ich öfters besuchte, lud mich
mit ihm zusammen in ihre Loge, um die Braut von
Messina zu sehen. Späterhin sahen wir ebenso die
Eugenie von Goethe. Mit Ehrfurcht huldigte ich dem
tiefen Geist und großen Karakter, mit Freimüthigkeit
forderte und bestritt ich seine Aussprüche, soweit meine

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zuckten, die wegen des Weitergehens bedenklich machen
konnten, denn eine der erſten Wirkungen unſrer wett¬
eifernden Thaͤtigkeit mußte ſein, daß wir gewahr wur¬
den, wir ſeien bisher, wie in der Litteratur, ſo auch
im Leben, allzu zahm und billig geweſen, und nun
annahmen, wir duͤrften vieles keck als gemein und ge¬
ring verwerfen, was wir bisher geachtet, und muͤßten
uns, um nicht als geduldige Haſenfuͤße zu gelten, als
ſtoͤßige Boͤcke gebaͤrden. Die Schlegel’ſchen Geſinnun¬
gen und Beiſpiele hatten viel Verfuͤhreriſches fuͤr junge
Leute, welchen, bei ſchon befeſtigter Bildung, ihre ab¬
getragenen Unarten als etwas doch vielleicht Geniales
zum nochmaligen Wiederanprobiren noch nicht zu entfernt
lagen. Aber wir hielten, gutgeartet und brav, uns bei
allen Lockungen doch beſcheiden genug. —

In dieſe chaotiſche Gaͤhrung, aus der ſich nach Zu¬
fall und ohne Ziel und Ordnung alles neu geſtalten
ſollte, fiel uns zum Gluͤck bald ein ſtaͤrkeres Licht der
Autoritaͤt, durch welche, neben ſo vielem Schwankenden
und Verworrenen, auch wieder Feſtigkeit und Zuſammen¬
hang vor Augen ſtand. Ich lernte naͤmlich Fichte’n
kennen. Eine Dame, die ich oͤfters beſuchte, lud mich
mit ihm zuſammen in ihre Loge, um die Braut von
Meſſina zu ſehen. Spaͤterhin ſahen wir ebenſo die
Eugenie von Goethe. Mit Ehrfurcht huldigte ich dem
tiefen Geiſt und großen Karakter, mit Freimuͤthigkeit
forderte und beſtritt ich ſeine Ausſpruͤche, ſoweit meine

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[33/0047] zuckten, die wegen des Weitergehens bedenklich machen konnten, denn eine der erſten Wirkungen unſrer wett¬ eifernden Thaͤtigkeit mußte ſein, daß wir gewahr wur¬ den, wir ſeien bisher, wie in der Litteratur, ſo auch im Leben, allzu zahm und billig geweſen, und nun annahmen, wir duͤrften vieles keck als gemein und ge¬ ring verwerfen, was wir bisher geachtet, und muͤßten uns, um nicht als geduldige Haſenfuͤße zu gelten, als ſtoͤßige Boͤcke gebaͤrden. Die Schlegel’ſchen Geſinnun¬ gen und Beiſpiele hatten viel Verfuͤhreriſches fuͤr junge Leute, welchen, bei ſchon befeſtigter Bildung, ihre ab¬ getragenen Unarten als etwas doch vielleicht Geniales zum nochmaligen Wiederanprobiren noch nicht zu entfernt lagen. Aber wir hielten, gutgeartet und brav, uns bei allen Lockungen doch beſcheiden genug. — In dieſe chaotiſche Gaͤhrung, aus der ſich nach Zu¬ fall und ohne Ziel und Ordnung alles neu geſtalten ſollte, fiel uns zum Gluͤck bald ein ſtaͤrkeres Licht der Autoritaͤt, durch welche, neben ſo vielem Schwankenden und Verworrenen, auch wieder Feſtigkeit und Zuſammen¬ hang vor Augen ſtand. Ich lernte naͤmlich Fichte’n kennen. Eine Dame, die ich oͤfters beſuchte, lud mich mit ihm zuſammen in ihre Loge, um die Braut von Meſſina zu ſehen. Spaͤterhin ſahen wir ebenſo die Eugenie von Goethe. Mit Ehrfurcht huldigte ich dem tiefen Geiſt und großen Karakter, mit Freimuͤthigkeit forderte und beſtritt ich ſeine Ausſpruͤche, ſoweit meine II. 3

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/47>, abgerufen am 25.04.2024.