Die Verzweiflung für sich allein hört auf poetisch zu seyn, sie thut wie ein wirkliches Uebel weh, und dem Schmerze weicht man aus. Allein zu verbannen ist sie darum aus der Poesie noch nicht, sie ist in ihr, wie im Leben selbst, ein unabweisliches Element, und Goethe selber sagt: "Wer nicht verzweifeln kann, der muß nicht leben." Nur soll sie in gehöriger Mischung her¬ antreten, und die entgegengesetzten Elemente der Ver¬ söhnung, des Trostes, der Erhebung dürfen uns nicht fehlen. Diese nothwendige, mildernde und erweckende Beimischung mangelt aber so wenig dem berühmten Romane Victor Hugo's, als vielen andern Schriften derselben Schule, wenn auch nicht immer durch aus¬ drückliche Formeln und Gestalten dafür gesorgt ist, jene Elemente so bestimmt, wie die des Schauderhaften und Schrecklichen, hervorzustellen; sie sind in dem Ganzen oft nur als Auflösung vorhanden, aber darum nicht minder lebendig, und sie sind es, welche solchen Schrif¬ ten, die sonst den gesunden Sinn nur abstoßen müßten, den mächtigen Reiz und die große Wirkung geben, die niemand ihnen abläugnen kann. Mag das höhere Leben in diesen Dichtungen für den einzelnen Fall immerhin erliegen, dadurch entgeht es ihnen nicht; dies geschieht nur da, wo dasselbe schlechterdings geläugnet, oder des¬ sen Wesenheit sich dadurch aufhebt, daß alle Erscheinun¬ gen desselben auf Gemeines und Todtes zurückgeführt werden. Von dieser letztern Art sind allerdings manche
Die Verzweiflung fuͤr ſich allein hoͤrt auf poetiſch zu ſeyn, ſie thut wie ein wirkliches Uebel weh, und dem Schmerze weicht man aus. Allein zu verbannen iſt ſie darum aus der Poeſie noch nicht, ſie iſt in ihr, wie im Leben ſelbſt, ein unabweisliches Element, und Goethe ſelber ſagt: „Wer nicht verzweifeln kann, der muß nicht leben.‟ Nur ſoll ſie in gehoͤriger Mischung her¬ antreten, und die entgegengeſetzten Elemente der Ver¬ ſoͤhnung, des Troſtes, der Erhebung duͤrfen uns nicht fehlen. Dieſe nothwendige, mildernde und erweckende Beimiſchung mangelt aber ſo wenig dem beruͤhmten Romane Victor Hugo's, als vielen andern Schriften derſelben Schule, wenn auch nicht immer durch aus¬ druͤckliche Formeln und Geſtalten dafuͤr geſorgt iſt, jene Elemente ſo beſtimmt, wie die des Schauderhaften und Schrecklichen, hervorzuſtellen; ſie ſind in dem Ganzen oft nur als Aufloͤſung vorhanden, aber darum nicht minder lebendig, und ſie ſind es, welche ſolchen Schrif¬ ten, die ſonſt den geſunden Sinn nur abſtoßen muͤßten, den maͤchtigen Reiz und die große Wirkung geben, die niemand ihnen ablaͤugnen kann. Mag das hoͤhere Leben in dieſen Dichtungen fuͤr den einzelnen Fall immerhin erliegen, dadurch entgeht es ihnen nicht; dies geſchieht nur da, wo daſſelbe ſchlechterdings gelaͤugnet, oder deſ¬ ſen Weſenheit ſich dadurch aufhebt, daß alle Erſcheinun¬ gen deſſelben auf Gemeines und Todtes zuruͤckgefuͤhrt werden. Von dieſer letztern Art ſind allerdings manche
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Die Verzweiflung fuͤr ſich allein hoͤrt auf poetiſch zu
ſeyn, ſie thut wie ein wirkliches Uebel weh, und dem
Schmerze weicht man aus. Allein zu verbannen iſt ſie
darum aus der Poeſie noch nicht, ſie iſt in ihr, wie
im Leben ſelbſt, ein unabweisliches Element, und Goethe
ſelber ſagt: „Wer nicht verzweifeln kann, der muß
nicht leben.‟ Nur ſoll ſie in gehoͤriger Mischung her¬
antreten, und die entgegengeſetzten Elemente der Ver¬
ſoͤhnung, des Troſtes, der Erhebung duͤrfen uns nicht
fehlen. Dieſe nothwendige, mildernde und erweckende
Beimiſchung mangelt aber ſo wenig dem beruͤhmten
Romane Victor Hugo's, als vielen andern Schriften
derſelben Schule, wenn auch nicht immer durch aus¬
druͤckliche Formeln und Geſtalten dafuͤr geſorgt iſt, jene
Elemente ſo beſtimmt, wie die des Schauderhaften und
Schrecklichen, hervorzuſtellen; ſie ſind in dem Ganzen
oft nur als Aufloͤſung vorhanden, aber darum nicht
minder lebendig, und ſie ſind es, welche ſolchen Schrif¬
ten, die ſonſt den geſunden Sinn nur abſtoßen muͤßten,
den maͤchtigen Reiz und die große Wirkung geben, die
niemand ihnen ablaͤugnen kann. Mag das hoͤhere Leben
in dieſen Dichtungen fuͤr den einzelnen Fall immerhin
erliegen, dadurch entgeht es ihnen nicht; dies geſchieht
nur da, wo daſſelbe ſchlechterdings gelaͤugnet, oder deſ¬
ſen Weſenheit ſich dadurch aufhebt, daß alle Erſcheinun¬
gen deſſelben auf Gemeines und Todtes zuruͤckgefuͤhrt
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837, S. 447. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/461>, abgerufen am 22.11.2024.
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