Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Verzweiflung für sich allein hört auf poetisch zu
seyn, sie thut wie ein wirkliches Uebel weh, und dem
Schmerze weicht man aus. Allein zu verbannen ist sie
darum aus der Poesie noch nicht, sie ist in ihr, wie
im Leben selbst, ein unabweisliches Element, und Goethe
selber sagt: "Wer nicht verzweifeln kann, der muß
nicht leben." Nur soll sie in gehöriger Mischung her¬
antreten, und die entgegengesetzten Elemente der Ver¬
söhnung, des Trostes, der Erhebung dürfen uns nicht
fehlen. Diese nothwendige, mildernde und erweckende
Beimischung mangelt aber so wenig dem berühmten
Romane Victor Hugo's, als vielen andern Schriften
derselben Schule, wenn auch nicht immer durch aus¬
drückliche Formeln und Gestalten dafür gesorgt ist, jene
Elemente so bestimmt, wie die des Schauderhaften und
Schrecklichen, hervorzustellen; sie sind in dem Ganzen
oft nur als Auflösung vorhanden, aber darum nicht
minder lebendig, und sie sind es, welche solchen Schrif¬
ten, die sonst den gesunden Sinn nur abstoßen müßten,
den mächtigen Reiz und die große Wirkung geben, die
niemand ihnen abläugnen kann. Mag das höhere Leben
in diesen Dichtungen für den einzelnen Fall immerhin
erliegen, dadurch entgeht es ihnen nicht; dies geschieht
nur da, wo dasselbe schlechterdings geläugnet, oder des¬
sen Wesenheit sich dadurch aufhebt, daß alle Erscheinun¬
gen desselben auf Gemeines und Todtes zurückgeführt
werden. Von dieser letztern Art sind allerdings manche

Die Verzweiflung fuͤr ſich allein hoͤrt auf poetiſch zu
ſeyn, ſie thut wie ein wirkliches Uebel weh, und dem
Schmerze weicht man aus. Allein zu verbannen iſt ſie
darum aus der Poeſie noch nicht, ſie iſt in ihr, wie
im Leben ſelbſt, ein unabweisliches Element, und Goethe
ſelber ſagt: „Wer nicht verzweifeln kann, der muß
nicht leben.‟ Nur ſoll ſie in gehoͤriger Mischung her¬
antreten, und die entgegengeſetzten Elemente der Ver¬
ſoͤhnung, des Troſtes, der Erhebung duͤrfen uns nicht
fehlen. Dieſe nothwendige, mildernde und erweckende
Beimiſchung mangelt aber ſo wenig dem beruͤhmten
Romane Victor Hugo's, als vielen andern Schriften
derſelben Schule, wenn auch nicht immer durch aus¬
druͤckliche Formeln und Geſtalten dafuͤr geſorgt iſt, jene
Elemente ſo beſtimmt, wie die des Schauderhaften und
Schrecklichen, hervorzuſtellen; ſie ſind in dem Ganzen
oft nur als Aufloͤſung vorhanden, aber darum nicht
minder lebendig, und ſie ſind es, welche ſolchen Schrif¬
ten, die ſonſt den geſunden Sinn nur abſtoßen muͤßten,
den maͤchtigen Reiz und die große Wirkung geben, die
niemand ihnen ablaͤugnen kann. Mag das hoͤhere Leben
in dieſen Dichtungen fuͤr den einzelnen Fall immerhin
erliegen, dadurch entgeht es ihnen nicht; dies geſchieht
nur da, wo daſſelbe ſchlechterdings gelaͤugnet, oder deſ¬
ſen Weſenheit ſich dadurch aufhebt, daß alle Erſcheinun¬
gen deſſelben auf Gemeines und Todtes zuruͤckgefuͤhrt
werden. Von dieſer letztern Art ſind allerdings manche

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0461" n="447"/>
Die Verzweiflung fu&#x0364;r &#x017F;ich allein ho&#x0364;rt auf poeti&#x017F;ch zu<lb/>
&#x017F;eyn, &#x017F;ie thut wie ein wirkliches Uebel weh, und dem<lb/>
Schmerze weicht man aus. Allein zu verbannen i&#x017F;t &#x017F;ie<lb/>
darum aus der Poe&#x017F;ie noch nicht, &#x017F;ie i&#x017F;t in ihr, wie<lb/>
im Leben &#x017F;elb&#x017F;t, ein unabweisliches Element, und Goethe<lb/>
&#x017F;elber &#x017F;agt: &#x201E;Wer nicht verzweifeln kann, der muß<lb/>
nicht leben.&#x201F; Nur &#x017F;oll &#x017F;ie in geho&#x0364;riger Mischung her¬<lb/>
antreten, und die entgegenge&#x017F;etzten Elemente der Ver¬<lb/>
&#x017F;o&#x0364;hnung, des Tro&#x017F;tes, der Erhebung du&#x0364;rfen uns nicht<lb/>
fehlen. Die&#x017F;e nothwendige, mildernde und erweckende<lb/>
Beimi&#x017F;chung mangelt aber &#x017F;o wenig dem beru&#x0364;hmten<lb/>
Romane Victor Hugo's, als vielen andern Schriften<lb/>
der&#x017F;elben Schule, wenn auch nicht immer durch aus¬<lb/>
dru&#x0364;ckliche Formeln und Ge&#x017F;talten dafu&#x0364;r ge&#x017F;orgt i&#x017F;t, jene<lb/>
Elemente &#x017F;o be&#x017F;timmt, wie die des Schauderhaften und<lb/>
Schrecklichen, hervorzu&#x017F;tellen; &#x017F;ie &#x017F;ind in dem Ganzen<lb/>
oft nur als Auflo&#x0364;&#x017F;ung vorhanden, aber darum nicht<lb/>
minder lebendig, und &#x017F;ie &#x017F;ind es, welche &#x017F;olchen Schrif¬<lb/>
ten, die &#x017F;on&#x017F;t den ge&#x017F;unden Sinn nur ab&#x017F;toßen mu&#x0364;ßten,<lb/>
den ma&#x0364;chtigen Reiz und die große Wirkung geben, die<lb/>
niemand ihnen abla&#x0364;ugnen kann. Mag das ho&#x0364;here Leben<lb/>
in die&#x017F;en Dichtungen fu&#x0364;r den einzelnen Fall immerhin<lb/>
erliegen, dadurch entgeht es ihnen nicht; dies ge&#x017F;chieht<lb/>
nur da, wo da&#x017F;&#x017F;elbe &#x017F;chlechterdings gela&#x0364;ugnet, oder de&#x017F;¬<lb/>
&#x017F;en We&#x017F;enheit &#x017F;ich dadurch aufhebt, daß alle Er&#x017F;cheinun¬<lb/>
gen de&#x017F;&#x017F;elben auf Gemeines und Todtes zuru&#x0364;ckgefu&#x0364;hrt<lb/>
werden. Von die&#x017F;er letztern Art &#x017F;ind allerdings manche<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[447/0461] Die Verzweiflung fuͤr ſich allein hoͤrt auf poetiſch zu ſeyn, ſie thut wie ein wirkliches Uebel weh, und dem Schmerze weicht man aus. Allein zu verbannen iſt ſie darum aus der Poeſie noch nicht, ſie iſt in ihr, wie im Leben ſelbſt, ein unabweisliches Element, und Goethe ſelber ſagt: „Wer nicht verzweifeln kann, der muß nicht leben.‟ Nur ſoll ſie in gehoͤriger Mischung her¬ antreten, und die entgegengeſetzten Elemente der Ver¬ ſoͤhnung, des Troſtes, der Erhebung duͤrfen uns nicht fehlen. Dieſe nothwendige, mildernde und erweckende Beimiſchung mangelt aber ſo wenig dem beruͤhmten Romane Victor Hugo's, als vielen andern Schriften derſelben Schule, wenn auch nicht immer durch aus¬ druͤckliche Formeln und Geſtalten dafuͤr geſorgt iſt, jene Elemente ſo beſtimmt, wie die des Schauderhaften und Schrecklichen, hervorzuſtellen; ſie ſind in dem Ganzen oft nur als Aufloͤſung vorhanden, aber darum nicht minder lebendig, und ſie ſind es, welche ſolchen Schrif¬ ten, die ſonſt den geſunden Sinn nur abſtoßen muͤßten, den maͤchtigen Reiz und die große Wirkung geben, die niemand ihnen ablaͤugnen kann. Mag das hoͤhere Leben in dieſen Dichtungen fuͤr den einzelnen Fall immerhin erliegen, dadurch entgeht es ihnen nicht; dies geſchieht nur da, wo daſſelbe ſchlechterdings gelaͤugnet, oder deſ¬ ſen Weſenheit ſich dadurch aufhebt, daß alle Erſcheinun¬ gen deſſelben auf Gemeines und Todtes zuruͤckgefuͤhrt werden. Von dieſer letztern Art ſind allerdings manche

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/461
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837, S. 447. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/461>, abgerufen am 22.11.2024.