Le Monde comme il est; par le marquisde Custine. Paris, chez Eugene Renduel. 1835. 2Vols. 8.
Goethe nennt in einem Briefe an Zelter die neusten französischen Romane und verwandte Dichtungen eine Litteratur der Verzweiflung, und grade das merkwürdigste und eigenthümlichste Werk aus diesem Kreise, Victor Hugo's Notre-Dame de Paris, muß ihm hiefür als Beleg dienen. Wir dürften seiner scharfen, bis zum Unwillen gesteigerten Kritik dieses Buches mit gutem Grunde mancherlei entgegensetzen; allein, auch zugegeben, daß jener bezeichnungsvolle Ausspruch im Allgemeinen wohlgültig und treffend sei, -- wie denn Goethe nie etwas Leeres und blos Eingebildetes oder Willkürliches sagt, sondern immer ein Wirkliches, An¬ geschautes vor Augen hat, -- so dünkt uns doch, der weltkundige Greis, der von seiner hohen Warte das ihn umwogende Leben mit seltner Einsicht und Klarheit beobachtet und beurtheilt, habe diesmal den Gegenstand, der ihm so anstößig und widrig erscheint, in einer zu vereinzelten Betrachtung aufgefaßt. Die Litteratur steht nicht für sich allein; ihre Gestalt, ihr Glanz und ihre Verdunklung, ihr Stoff und ihre Richtung, hängen nicht von der Laune der Schriftsteller ab, sondern von Volks- und Weltbezügen, die sich in den Geisteserzeugnissen
Le Monde comme il est; par le marquisde Custine. Paris, chez Eugène Renduel. 1835. 2Vols. 8.
Goethe nennt in einem Briefe an Zelter die neuſten franzoͤſiſchen Romane und verwandte Dichtungen eine Litteratur der Verzweiflung, und grade das merkwuͤrdigſte und eigenthuͤmlichſte Werk aus dieſem Kreiſe, Victor Hugo's Notre-Dame de Paris, muß ihm hiefuͤr als Beleg dienen. Wir duͤrften ſeiner ſcharfen, bis zum Unwillen geſteigerten Kritik dieſes Buches mit gutem Grunde mancherlei entgegenſetzen; allein, auch zugegeben, daß jener bezeichnungsvolle Ausſpruch im Allgemeinen wohlguͤltig und treffend ſei, — wie denn Goethe nie etwas Leeres und blos Eingebildetes oder Willkuͤrliches ſagt, ſondern immer ein Wirkliches, An¬ geſchautes vor Augen hat, — ſo duͤnkt uns doch, der weltkundige Greis, der von ſeiner hohen Warte das ihn umwogende Leben mit ſeltner Einſicht und Klarheit beobachtet und beurtheilt, habe diesmal den Gegenſtand, der ihm ſo anſtoͤßig und widrig erſcheint, in einer zu vereinzelten Betrachtung aufgefaßt. Die Litteratur ſteht nicht fuͤr ſich allein; ihre Geſtalt, ihr Glanz und ihre Verdunklung, ihr Stoff und ihre Richtung, haͤngen nicht von der Laune der Schriftſteller ab, ſondern von Volks- und Weltbezuͤgen, die ſich in den Geiſteserzeugniſſen
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Le Monde comme il est; par le marquis de
Custine. Paris, chez Eugène Renduel.
1835. 2 Vols. 8.
Goethe nennt in einem Briefe an Zelter die neuſten
franzoͤſiſchen Romane und verwandte Dichtungen eine
Litteratur der Verzweiflung, und grade das
merkwuͤrdigſte und eigenthuͤmlichſte Werk aus dieſem
Kreiſe, Victor Hugo's Notre-Dame de Paris, muß ihm
hiefuͤr als Beleg dienen. Wir duͤrften ſeiner ſcharfen,
bis zum Unwillen geſteigerten Kritik dieſes Buches mit
gutem Grunde mancherlei entgegenſetzen; allein, auch
zugegeben, daß jener bezeichnungsvolle Ausſpruch im
Allgemeinen wohlguͤltig und treffend ſei, — wie denn
Goethe nie etwas Leeres und blos Eingebildetes oder
Willkuͤrliches ſagt, ſondern immer ein Wirkliches, An¬
geſchautes vor Augen hat, — ſo duͤnkt uns doch, der
weltkundige Greis, der von ſeiner hohen Warte das
ihn umwogende Leben mit ſeltner Einſicht und Klarheit
beobachtet und beurtheilt, habe diesmal den Gegenſtand,
der ihm ſo anſtoͤßig und widrig erſcheint, in einer zu
vereinzelten Betrachtung aufgefaßt. Die Litteratur ſteht
nicht fuͤr ſich allein; ihre Geſtalt, ihr Glanz und ihre
Verdunklung, ihr Stoff und ihre Richtung, haͤngen nicht
von der Laune der Schriftſteller ab, ſondern von Volks-
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837, S. 444. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/458>, abgerufen am 22.11.2024.
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