Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837.

Bild:
<< vorherige Seite

desto fruchtbarer und gehaltvoller wird er. Die Be¬
merkungen über Shakspeare'sche Karaktere sind in ihrer
Einzelheit schätzbar, eröffnen weitern Einblick und Nach¬
denken. Dagegen verleitet ihn sein Schema zu völli¬
gem Mißkennen der Iphigenia und des Tasso, in denen
er alle tragischen Mächte verabschiedet meint! Ueber
den Werther sagt er Treffendes, Tiefeindringendes.
Wir erwähnen hierbei vor allem eines wichtig-sonder¬
baren Umstandes mit den eignen Worten des Verfassers:
"Aus mündlicher Mittheilung -- sagt er -- erinnere
ich mich, wie Goethe erzählte, Napoleon sei der einzige
gewesen, der ihn, den Dichter, auf ein Mißverhältniß
im Werther aufmerksam gemacht, das bis dahin den
schärfsten, kritischen Blicken entgangen, weil er es aller¬
dings so künstlich versteckt, wie der Schneider seine
künstliche Naht anzubringen pflege, wenn ihm durch
ein Unglück in ein ganzes Stück Tuch irgendwo ein
Riß kommt. Als ich um nähern Aufschluß bat, erwie¬
derte er mir, ich sei durch das, was ich über Werther
in meiner Beurtheilung bereits gesagt, auf bestem Wege
es selbst zu finden; er wolle mir daher nicht vorgreifen."
Sollte hiermit das von dem Verfasser kurz vorher An¬
gemerkte gemeint sein, daß es auffallen müsse, wie
Werther so ganz und gar nichts dafür thut, in den
Besitz Lottens zu gelangen, da es doch möglich und
erlaubt, und sie noch durch kein entschiedenes Band
ihm entzogen war, so könnten wir dies doch nicht un¬

deſto fruchtbarer und gehaltvoller wird er. Die Be¬
merkungen uͤber Shakſpeare'ſche Karaktere ſind in ihrer
Einzelheit ſchaͤtzbar, eroͤffnen weitern Einblick und Nach¬
denken. Dagegen verleitet ihn ſein Schema zu voͤlli¬
gem Mißkennen der Iphigenia und des Taſſo, in denen
er alle tragiſchen Maͤchte verabſchiedet meint! Ueber
den Werther ſagt er Treffendes, Tiefeindringendes.
Wir erwaͤhnen hierbei vor allem eines wichtig-ſonder¬
baren Umſtandes mit den eignen Worten des Verfaſſers:
„Aus muͤndlicher Mittheilung — ſagt er — erinnere
ich mich, wie Goethe erzaͤhlte, Napoleon ſei der einzige
geweſen, der ihn, den Dichter, auf ein Mißverhaͤltniß
im Werther aufmerkſam gemacht, das bis dahin den
ſchaͤrfſten, kritiſchen Blicken entgangen, weil er es aller¬
dings ſo kuͤnſtlich verſteckt, wie der Schneider ſeine
kuͤnſtliche Naht anzubringen pflege, wenn ihm durch
ein Ungluͤck in ein ganzes Stuͤck Tuch irgendwo ein
Riß kommt. Als ich um naͤhern Aufſchluß bat, erwie¬
derte er mir, ich ſei durch das, was ich uͤber Werther
in meiner Beurtheilung bereits geſagt, auf beſtem Wege
es ſelbſt zu finden; er wolle mir daher nicht vorgreifen.“
Sollte hiermit das von dem Verfaſſer kurz vorher An¬
gemerkte gemeint ſein, daß es auffallen muͤſſe, wie
Werther ſo ganz und gar nichts dafuͤr thut, in den
Beſitz Lottens zu gelangen, da es doch moͤglich und
erlaubt, und ſie noch durch kein entſchiedenes Band
ihm entzogen war, ſo koͤnnten wir dies doch nicht un¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0403" n="389"/>
de&#x017F;to fruchtbarer und gehaltvoller wird er. Die Be¬<lb/>
merkungen u&#x0364;ber Shak&#x017F;peare'&#x017F;che Karaktere &#x017F;ind in ihrer<lb/>
Einzelheit &#x017F;cha&#x0364;tzbar, ero&#x0364;ffnen weitern Einblick und Nach¬<lb/>
denken. Dagegen verleitet ihn &#x017F;ein Schema zu vo&#x0364;lli¬<lb/>
gem Mißkennen der Iphigenia und des Ta&#x017F;&#x017F;o, in denen<lb/>
er alle tragi&#x017F;chen Ma&#x0364;chte verab&#x017F;chiedet meint! Ueber<lb/>
den Werther &#x017F;agt er Treffendes, Tiefeindringendes.<lb/>
Wir erwa&#x0364;hnen hierbei vor allem eines wichtig-&#x017F;onder¬<lb/>
baren Um&#x017F;tandes mit den eignen Worten des Verfa&#x017F;&#x017F;ers:<lb/>
&#x201E;Aus mu&#x0364;ndlicher Mittheilung &#x2014; &#x017F;agt er &#x2014; erinnere<lb/>
ich mich, wie Goethe erza&#x0364;hlte, Napoleon &#x017F;ei der einzige<lb/>
gewe&#x017F;en, der ihn, den Dichter, auf ein Mißverha&#x0364;ltniß<lb/>
im Werther aufmerk&#x017F;am gemacht, das bis dahin den<lb/>
&#x017F;cha&#x0364;rf&#x017F;ten, kriti&#x017F;chen Blicken entgangen, weil er es aller¬<lb/>
dings &#x017F;o ku&#x0364;n&#x017F;tlich ver&#x017F;teckt, wie der Schneider &#x017F;eine<lb/>
ku&#x0364;n&#x017F;tliche Naht anzubringen pflege, wenn ihm durch<lb/>
ein Unglu&#x0364;ck in ein ganzes Stu&#x0364;ck Tuch irgendwo ein<lb/>
Riß kommt. Als ich um na&#x0364;hern Auf&#x017F;chluß bat, erwie¬<lb/>
derte er mir, ich &#x017F;ei durch das, was ich u&#x0364;ber Werther<lb/>
in meiner Beurtheilung bereits ge&#x017F;agt, auf be&#x017F;tem Wege<lb/>
es &#x017F;elb&#x017F;t zu finden; er wolle mir daher nicht vorgreifen.&#x201C;<lb/>
Sollte hiermit das von dem Verfa&#x017F;&#x017F;er kurz vorher An¬<lb/>
gemerkte gemeint &#x017F;ein, daß es auffallen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, wie<lb/>
Werther &#x017F;o ganz und gar nichts dafu&#x0364;r thut, in den<lb/>
Be&#x017F;itz Lottens zu gelangen, da es doch mo&#x0364;glich und<lb/>
erlaubt, und &#x017F;ie noch durch kein ent&#x017F;chiedenes Band<lb/>
ihm entzogen war, &#x017F;o ko&#x0364;nnten wir dies doch nicht un¬<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[389/0403] deſto fruchtbarer und gehaltvoller wird er. Die Be¬ merkungen uͤber Shakſpeare'ſche Karaktere ſind in ihrer Einzelheit ſchaͤtzbar, eroͤffnen weitern Einblick und Nach¬ denken. Dagegen verleitet ihn ſein Schema zu voͤlli¬ gem Mißkennen der Iphigenia und des Taſſo, in denen er alle tragiſchen Maͤchte verabſchiedet meint! Ueber den Werther ſagt er Treffendes, Tiefeindringendes. Wir erwaͤhnen hierbei vor allem eines wichtig-ſonder¬ baren Umſtandes mit den eignen Worten des Verfaſſers: „Aus muͤndlicher Mittheilung — ſagt er — erinnere ich mich, wie Goethe erzaͤhlte, Napoleon ſei der einzige geweſen, der ihn, den Dichter, auf ein Mißverhaͤltniß im Werther aufmerkſam gemacht, das bis dahin den ſchaͤrfſten, kritiſchen Blicken entgangen, weil er es aller¬ dings ſo kuͤnſtlich verſteckt, wie der Schneider ſeine kuͤnſtliche Naht anzubringen pflege, wenn ihm durch ein Ungluͤck in ein ganzes Stuͤck Tuch irgendwo ein Riß kommt. Als ich um naͤhern Aufſchluß bat, erwie¬ derte er mir, ich ſei durch das, was ich uͤber Werther in meiner Beurtheilung bereits geſagt, auf beſtem Wege es ſelbſt zu finden; er wolle mir daher nicht vorgreifen.“ Sollte hiermit das von dem Verfaſſer kurz vorher An¬ gemerkte gemeint ſein, daß es auffallen muͤſſe, wie Werther ſo ganz und gar nichts dafuͤr thut, in den Beſitz Lottens zu gelangen, da es doch moͤglich und erlaubt, und ſie noch durch kein entſchiedenes Band ihm entzogen war, ſo koͤnnten wir dies doch nicht un¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/403
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837, S. 389. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/403>, abgerufen am 10.05.2024.