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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837.

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Selbstthätigkeit und Mitarbeit, daß man am Schlusse
der Stunde sich stets in der heitersten und wärmsten
Stimmung, in der angenehmsten Aufregung aller Geistes¬
kräfte fand. Meiner philologischen Neigung versagte ich
nicht, in den Frühstunden die Exegese der Briefe des
Apostel Paulus bei Schleiermacher zu hören, und meinen
medizinischen Absichten sollten vorläufig die zweifachen
Vorlesungen von Steffens über philosophische Physio¬
logie und experimentale Physik genügen, indem vor den
völlig medizinischen Vorlesungen eines Reil, Coder oder
Kurt Sprengel mich noch schauderte. Bei Schleierma¬
cher empfand ich bald entschiedenen Gewinn; seine Be¬
handlung des Gegenstandes, die sichre Kritik, die feine
Dialektik, waren bildend auch für anderweitige Einsicht,
und selbst dem Gemüth eröffneten sich aus diesen geord¬
neten und klaren Geisteswegen sittliche Einwirkungen.
Steffens hingegen riß gleich im Anfang seine Zuhörer
in Begeisterung fort, es war unmöglich in diesem
Gedränge von tiefen Anschauungen, großartigen Ver¬
knüpfungen und blühenden Sprechweisen, die seiner
Beredsamkeit entquollen, sich einer aufwallenden Theil¬
nahme zu erwehren. Ich versetzte mich mit Leichtig¬
keit in die naturphilosophischen Ansichten und Ausdrücke,
ich sah mit Bewunderung den begeisterten Lehrer einen
ungeheuern Stoff herrschend durchschalten, ich freute
mich der Liebenswürdigkeit eines Vortrags, der immer
ein bewegtes Herz erkennen ließ, und selbst in dem steten

Selbſtthaͤtigkeit und Mitarbeit, daß man am Schluſſe
der Stunde ſich ſtets in der heiterſten und waͤrmſten
Stimmung, in der angenehmſten Aufregung aller Geiſtes¬
kraͤfte fand. Meiner philologiſchen Neigung verſagte ich
nicht, in den Fruͤhſtunden die Exegeſe der Briefe des
Apoſtel Paulus bei Schleiermacher zu hoͤren, und meinen
mediziniſchen Abſichten ſollten vorlaͤufig die zweifachen
Vorleſungen von Steffens uͤber philoſophiſche Phyſio¬
logie und experimentale Phyſik genuͤgen, indem vor den
voͤllig mediziniſchen Vorleſungen eines Reil, Coder oder
Kurt Sprengel mich noch ſchauderte. Bei Schleierma¬
cher empfand ich bald entſchiedenen Gewinn; ſeine Be¬
handlung des Gegenſtandes, die ſichre Kritik, die feine
Dialektik, waren bildend auch fuͤr anderweitige Einſicht,
und ſelbſt dem Gemuͤth eroͤffneten ſich aus dieſen geord¬
neten und klaren Geiſteswegen ſittliche Einwirkungen.
Steffens hingegen riß gleich im Anfang ſeine Zuhoͤrer
in Begeiſterung fort, es war unmoͤglich in dieſem
Gedraͤnge von tiefen Anſchauungen, großartigen Ver¬
knuͤpfungen und bluͤhenden Sprechweiſen, die ſeiner
Beredſamkeit entquollen, ſich einer aufwallenden Theil¬
nahme zu erwehren. Ich verſetzte mich mit Leichtig¬
keit in die naturphiloſophiſchen Anſichten und Ausdruͤcke,
ich ſah mit Bewunderung den begeiſterten Lehrer einen
ungeheuern Stoff herrſchend durchſchalten, ich freute
mich der Liebenswuͤrdigkeit eines Vortrags, der immer
ein bewegtes Herz erkennen ließ, und ſelbſt in dem ſteten

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[96/0110] Selbſtthaͤtigkeit und Mitarbeit, daß man am Schluſſe der Stunde ſich ſtets in der heiterſten und waͤrmſten Stimmung, in der angenehmſten Aufregung aller Geiſtes¬ kraͤfte fand. Meiner philologiſchen Neigung verſagte ich nicht, in den Fruͤhſtunden die Exegeſe der Briefe des Apoſtel Paulus bei Schleiermacher zu hoͤren, und meinen mediziniſchen Abſichten ſollten vorlaͤufig die zweifachen Vorleſungen von Steffens uͤber philoſophiſche Phyſio¬ logie und experimentale Phyſik genuͤgen, indem vor den voͤllig mediziniſchen Vorleſungen eines Reil, Coder oder Kurt Sprengel mich noch ſchauderte. Bei Schleierma¬ cher empfand ich bald entſchiedenen Gewinn; ſeine Be¬ handlung des Gegenſtandes, die ſichre Kritik, die feine Dialektik, waren bildend auch fuͤr anderweitige Einſicht, und ſelbſt dem Gemuͤth eroͤffneten ſich aus dieſen geord¬ neten und klaren Geiſteswegen ſittliche Einwirkungen. Steffens hingegen riß gleich im Anfang ſeine Zuhoͤrer in Begeiſterung fort, es war unmoͤglich in dieſem Gedraͤnge von tiefen Anſchauungen, großartigen Ver¬ knuͤpfungen und bluͤhenden Sprechweiſen, die ſeiner Beredſamkeit entquollen, ſich einer aufwallenden Theil¬ nahme zu erwehren. Ich verſetzte mich mit Leichtig¬ keit in die naturphiloſophiſchen Anſichten und Ausdruͤcke, ich ſah mit Bewunderung den begeiſterten Lehrer einen ungeheuern Stoff herrſchend durchſchalten, ich freute mich der Liebenswuͤrdigkeit eines Vortrags, der immer ein bewegtes Herz erkennen ließ, und ſelbſt in dem ſteten

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/110>, abgerufen am 30.04.2024.