Der Bezug dieser Verhältnisse erschien mir in starker Mahnung gleich bei dem Immatrikulieren, zu welchem wir uns bei dem Prorektor Maaß meldeten. Schon während der Reise hatte ich über die zukünftige Gestalt meines Lebens ernstlich nachgedacht, und wohl gefühlt, daß es Frevel wäre, ohne Rücksicht auf die gewöhn¬ lichen Fügungen durchaus eine geniale Laufbahn anzu¬ sprechen. Wollte ich einen freien Stand und eine gründ¬ liche Thätigkeit in der bürgerlichen Welt haben, dachte ich so viele Erwartungen und Wünsche, die mir zuge¬ wachsen waren, nicht völlig zu täuschen, oder in unge¬ messene Form zu schieben, so mußte ich nothwendig die Arzneiwissenschaft wieder pflegen, da die Philologie, entweder nur handwerksmäßig dem Schulfache zuführte, oder für andre Stellung eine Meisterschaft erforderte, die wir uns keineswegs vermaßen so schnell -- wenn irgend je -- zu erwerben. Ich ließ mich daher als Beflissenen der Medizin und der Philologie einschreiben, zur Verwunderung der Andern, die meines Sinnes noch nicht kundig waren, und indem ich mein Augen¬ merk fortan wieder auf jene Studien richtete, gab ich mir nur die beruhigende Frist noch, wenigstens das erste halbe Jahr ungetheilt meinen freiesten Neigungen zuzu¬ wenden, welches auch um so leichter anging, als mir eine gewisse Stufe in der Kenntniß der Alten und in allgemeiner Geistesbildung unentbehrliches Bedürfniß war, und meine medizinischen Vorkenntnisse mich über die
Der Bezug dieſer Verhaͤltniſſe erſchien mir in ſtarker Mahnung gleich bei dem Immatrikulieren, zu welchem wir uns bei dem Prorektor Maaß meldeten. Schon waͤhrend der Reiſe hatte ich uͤber die zukuͤnftige Geſtalt meines Lebens ernſtlich nachgedacht, und wohl gefuͤhlt, daß es Frevel waͤre, ohne Ruͤckſicht auf die gewoͤhn¬ lichen Fuͤgungen durchaus eine geniale Laufbahn anzu¬ ſprechen. Wollte ich einen freien Stand und eine gruͤnd¬ liche Thaͤtigkeit in der buͤrgerlichen Welt haben, dachte ich ſo viele Erwartungen und Wuͤnſche, die mir zuge¬ wachſen waren, nicht voͤllig zu taͤuſchen, oder in unge¬ meſſene Form zu ſchieben, ſo mußte ich nothwendig die Arzneiwiſſenſchaft wieder pflegen, da die Philologie, entweder nur handwerksmaͤßig dem Schulfache zufuͤhrte, oder fuͤr andre Stellung eine Meiſterſchaft erforderte, die wir uns keineswegs vermaßen ſo ſchnell — wenn irgend je — zu erwerben. Ich ließ mich daher als Befliſſenen der Medizin und der Philologie einſchreiben, zur Verwunderung der Andern, die meines Sinnes noch nicht kundig waren, und indem ich mein Augen¬ merk fortan wieder auf jene Studien richtete, gab ich mir nur die beruhigende Friſt noch, wenigſtens das erſte halbe Jahr ungetheilt meinen freieſten Neigungen zuzu¬ wenden, welches auch um ſo leichter anging, als mir eine gewiſſe Stufe in der Kenntniß der Alten und in allgemeiner Geiſtesbildung unentbehrliches Beduͤrfniß war, und meine mediziniſchen Vorkenntniſſe mich uͤber die
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0103"n="89"/><p>Der Bezug dieſer Verhaͤltniſſe erſchien mir in ſtarker<lb/>
Mahnung gleich bei dem Immatrikulieren, zu welchem<lb/>
wir uns bei dem Prorektor Maaß meldeten. Schon<lb/>
waͤhrend der Reiſe hatte ich uͤber die zukuͤnftige Geſtalt<lb/>
meines Lebens ernſtlich nachgedacht, und wohl gefuͤhlt,<lb/>
daß es Frevel waͤre, ohne Ruͤckſicht auf die gewoͤhn¬<lb/>
lichen Fuͤgungen durchaus eine geniale Laufbahn anzu¬<lb/>ſprechen. Wollte ich einen freien Stand und eine gruͤnd¬<lb/>
liche Thaͤtigkeit in der buͤrgerlichen Welt haben, dachte<lb/>
ich ſo viele Erwartungen und Wuͤnſche, die mir zuge¬<lb/>
wachſen waren, nicht voͤllig zu taͤuſchen, oder in unge¬<lb/>
meſſene Form zu ſchieben, ſo mußte ich nothwendig die<lb/>
Arzneiwiſſenſchaft wieder pflegen, da die Philologie,<lb/>
entweder nur handwerksmaͤßig dem Schulfache zufuͤhrte,<lb/>
oder fuͤr andre Stellung eine Meiſterſchaft erforderte,<lb/>
die wir uns keineswegs vermaßen ſo ſchnell — wenn<lb/>
irgend je — zu erwerben. Ich ließ mich daher als<lb/>
Befliſſenen der Medizin und der Philologie einſchreiben,<lb/>
zur Verwunderung der Andern, die meines Sinnes<lb/>
noch nicht kundig waren, und indem ich mein Augen¬<lb/>
merk fortan wieder auf jene Studien richtete, gab ich<lb/>
mir nur die beruhigende Friſt noch, wenigſtens das erſte<lb/>
halbe Jahr ungetheilt meinen freieſten Neigungen zuzu¬<lb/>
wenden, welches auch um ſo leichter anging, als mir<lb/>
eine gewiſſe Stufe in der Kenntniß der Alten und in<lb/>
allgemeiner Geiſtesbildung unentbehrliches Beduͤrfniß war,<lb/>
und meine mediziniſchen Vorkenntniſſe mich uͤber die<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[89/0103]
Der Bezug dieſer Verhaͤltniſſe erſchien mir in ſtarker
Mahnung gleich bei dem Immatrikulieren, zu welchem
wir uns bei dem Prorektor Maaß meldeten. Schon
waͤhrend der Reiſe hatte ich uͤber die zukuͤnftige Geſtalt
meines Lebens ernſtlich nachgedacht, und wohl gefuͤhlt,
daß es Frevel waͤre, ohne Ruͤckſicht auf die gewoͤhn¬
lichen Fuͤgungen durchaus eine geniale Laufbahn anzu¬
ſprechen. Wollte ich einen freien Stand und eine gruͤnd¬
liche Thaͤtigkeit in der buͤrgerlichen Welt haben, dachte
ich ſo viele Erwartungen und Wuͤnſche, die mir zuge¬
wachſen waren, nicht voͤllig zu taͤuſchen, oder in unge¬
meſſene Form zu ſchieben, ſo mußte ich nothwendig die
Arzneiwiſſenſchaft wieder pflegen, da die Philologie,
entweder nur handwerksmaͤßig dem Schulfache zufuͤhrte,
oder fuͤr andre Stellung eine Meiſterſchaft erforderte,
die wir uns keineswegs vermaßen ſo ſchnell — wenn
irgend je — zu erwerben. Ich ließ mich daher als
Befliſſenen der Medizin und der Philologie einſchreiben,
zur Verwunderung der Andern, die meines Sinnes
noch nicht kundig waren, und indem ich mein Augen¬
merk fortan wieder auf jene Studien richtete, gab ich
mir nur die beruhigende Friſt noch, wenigſtens das erſte
halbe Jahr ungetheilt meinen freieſten Neigungen zuzu¬
wenden, welches auch um ſo leichter anging, als mir
eine gewiſſe Stufe in der Kenntniß der Alten und in
allgemeiner Geiſtesbildung unentbehrliches Beduͤrfniß war,
und meine mediziniſchen Vorkenntniſſe mich uͤber die
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/103>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.