Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837.

Bild:
<< vorherige Seite

hafte Gedanke gehört ganz dem deutschen Schriftsteller
an, der ihn Voltaire'n andichtet. Ein fleißiger Leser
von Voltaire's Schriften, der erst neuerlich in dessen
Briefwechsel eine in solchem Maße kaum vermuthete
Quelle der belehrendsten Unterhaltung gefunden, hat
nirgends eine Spur entdecken können, daß jener Formel
ein solcher Sinn beizulegen wäre; im Gegentheil, die
meisten Stellen erfordern geradezu jenen ersten, zu allen
Zeiten und auch noch in unsern Tagen zu rechtfertigen¬
den Sinn, daß der Fanatismus, der Aberglaube, zer¬
stört werden sollen; und jede andere Auslegung wird
zu einer aufgezwungenen. Hierzu kommt noch die
offenbare, unumwundene Erklärung des Autors selbst,
die allein hinreicht, um jene verläumderische Unterschie¬
bung in ihrer Nichtigkeit bloßzustellen. In einem ver¬
trauten Briefe Voltaire's an d'Alembert (vom Jahre
1760), dessen Inhalt jeden Gedanken an gleißnerische
Beschönigung oder heuchlerische Milderung völlig aus¬
schließt, heißt es zuletzt im Ergusse innigst verbundenen
Vertrauens: "Je voudrais que vous ecrasassiez
l'inf ..., c'est-la le grand point. Il faut la reduire

a l'etat ou elle est en Angleterre, et vous en viendrez
a bout, si vous voulez: c'est le plus grand service
qu'on puisse rendre au genre-humain. Vous pensez
bien que je ne parle que de la superstition : car
pour la
religion , je l'aime et la respecte comme
vous
." Wo bleibt hier die böswillige Anklage? Die

hafte Gedanke gehoͤrt ganz dem deutſchen Schriftſteller
an, der ihn Voltaire’n andichtet. Ein fleißiger Leſer
von Voltaire’s Schriften, der erſt neuerlich in deſſen
Briefwechſel eine in ſolchem Maße kaum vermuthete
Quelle der belehrendſten Unterhaltung gefunden, hat
nirgends eine Spur entdecken koͤnnen, daß jener Formel
ein ſolcher Sinn beizulegen waͤre; im Gegentheil, die
meiſten Stellen erfordern geradezu jenen erſten, zu allen
Zeiten und auch noch in unſern Tagen zu rechtfertigen¬
den Sinn, daß der Fanatismus, der Aberglaube, zer¬
ſtoͤrt werden ſollen; und jede andere Auslegung wird
zu einer aufgezwungenen. Hierzu kommt noch die
offenbare, unumwundene Erklaͤrung des Autors ſelbſt,
die allein hinreicht, um jene verlaͤumderiſche Unterſchie¬
bung in ihrer Nichtigkeit bloßzuſtellen. In einem ver¬
trauten Briefe Voltaire’s an d’Alembert (vom Jahre
1760), deſſen Inhalt jeden Gedanken an gleißneriſche
Beſchoͤnigung oder heuchleriſche Milderung voͤllig aus¬
ſchließt, heißt es zuletzt im Erguſſe innigſt verbundenen
Vertrauens: „Je voudrais que vous écrasassiez
l'inf ..., c'est-là le grand point. Il faut la réduire

à l'état où elle est en Angleterre, et vous en viendrez
à bout, si vous voulez: c'est le plus grand service
qu'on puisse rendre au genre-humain. Vous pensez
bien que je ne parle que de la superstition : car
pour la
religion , je l'aime et la respecte comme
vous
.“ Wo bleibt hier die boͤswillige Anklage? Die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0502" n="488"/>
hafte Gedanke geho&#x0364;rt ganz dem deut&#x017F;chen Schrift&#x017F;teller<lb/>
an, der ihn Voltaire&#x2019;n andichtet. Ein fleißiger Le&#x017F;er<lb/>
von Voltaire&#x2019;s Schriften, der er&#x017F;t neuerlich in de&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Briefwech&#x017F;el eine in &#x017F;olchem Maße kaum vermuthete<lb/>
Quelle der belehrend&#x017F;ten Unterhaltung gefunden, hat<lb/>
nirgends eine Spur entdecken ko&#x0364;nnen, daß jener Formel<lb/>
ein &#x017F;olcher Sinn beizulegen wa&#x0364;re; im Gegentheil, die<lb/>
mei&#x017F;ten Stellen erfordern geradezu jenen er&#x017F;ten, zu allen<lb/>
Zeiten und auch noch in un&#x017F;ern Tagen zu rechtfertigen¬<lb/>
den Sinn, daß der Fanatismus, der Aberglaube, zer¬<lb/>
&#x017F;to&#x0364;rt werden &#x017F;ollen; und jede andere Auslegung wird<lb/>
zu einer aufgezwungenen. Hierzu kommt noch die<lb/>
offenbare, unumwundene Erkla&#x0364;rung des Autors &#x017F;elb&#x017F;t,<lb/>
die allein hinreicht, um jene verla&#x0364;umderi&#x017F;che Unter&#x017F;chie¬<lb/>
bung in ihrer Nichtigkeit bloßzu&#x017F;tellen. In einem ver¬<lb/>
trauten Briefe Voltaire&#x2019;s an d&#x2019;Alembert (vom Jahre<lb/><hi rendition="#b">1760</hi>), de&#x017F;&#x017F;en Inhalt jeden Gedanken an gleißneri&#x017F;che<lb/>
Be&#x017F;cho&#x0364;nigung oder heuchleri&#x017F;che Milderung vo&#x0364;llig aus¬<lb/>
&#x017F;chließt, heißt es zuletzt im Ergu&#x017F;&#x017F;e innig&#x017F;t verbundenen<lb/>
Vertrauens: <hi rendition="#aq">&#x201E;Je voudrais que vous écrasassiez<lb/>
l'inf ..., c'est-là le grand point. Il faut la réduire</hi><lb/>
à l'état où elle est en Angleterre, et vous en viendrez<lb/>
à bout, si vous voulez: c'est le plus grand service<lb/>
qu'on puisse rendre au genre-humain. Vous pensez<lb/><hi rendition="#aq">bien que je ne parle que de la</hi> <hi rendition="#aq #i">superstition</hi> <hi rendition="#aq">: car<lb/>
pour la</hi> <hi rendition="#aq #i">religion</hi> <hi rendition="#aq">, je l'aime et la respecte comme<lb/>
vous</hi>.&#x201C; Wo bleibt hier die bo&#x0364;swillige Anklage? Die<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[488/0502] hafte Gedanke gehoͤrt ganz dem deutſchen Schriftſteller an, der ihn Voltaire’n andichtet. Ein fleißiger Leſer von Voltaire’s Schriften, der erſt neuerlich in deſſen Briefwechſel eine in ſolchem Maße kaum vermuthete Quelle der belehrendſten Unterhaltung gefunden, hat nirgends eine Spur entdecken koͤnnen, daß jener Formel ein ſolcher Sinn beizulegen waͤre; im Gegentheil, die meiſten Stellen erfordern geradezu jenen erſten, zu allen Zeiten und auch noch in unſern Tagen zu rechtfertigen¬ den Sinn, daß der Fanatismus, der Aberglaube, zer¬ ſtoͤrt werden ſollen; und jede andere Auslegung wird zu einer aufgezwungenen. Hierzu kommt noch die offenbare, unumwundene Erklaͤrung des Autors ſelbſt, die allein hinreicht, um jene verlaͤumderiſche Unterſchie¬ bung in ihrer Nichtigkeit bloßzuſtellen. In einem ver¬ trauten Briefe Voltaire’s an d’Alembert (vom Jahre 1760), deſſen Inhalt jeden Gedanken an gleißneriſche Beſchoͤnigung oder heuchleriſche Milderung voͤllig aus¬ ſchließt, heißt es zuletzt im Erguſſe innigſt verbundenen Vertrauens: „Je voudrais que vous écrasassiez l'inf ..., c'est-là le grand point. Il faut la réduire à l'état où elle est en Angleterre, et vous en viendrez à bout, si vous voulez: c'est le plus grand service qu'on puisse rendre au genre-humain. Vous pensez bien que je ne parle que de la superstition : car pour la religion , je l'aime et la respecte comme vous.“ Wo bleibt hier die boͤswillige Anklage? Die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/502
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 488. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/502>, abgerufen am 24.11.2024.