Zu dieser Betrachtung veranlaßt uns der Anblick einiger Blätter von und über Fräulein von Kletten¬ berg, die uns zufällig in die Hände kommen, und durch deren Mittheilung wir viele Leser zu verpflichten hoffen.
Fräulein von Klettenberg, welche als Stiftsdame in Frankfurt am Main lebte und mit dem Goethe'schen Hause innig befreundet war, ist bekanntlich das Vorbild zu der "schönen Seele" im Wilhelm Meister, deren dort eingeschaltete Bekenntnisse eine der wunderbarsten Leistungen des dichtenden Genius sind, indem derselbe auch in den Gebieten, die ihm fremd scheinen, sich vollkommen heimisch und sogar herrschend erweist. Die reinste Frömmigkeit, mit ihren zartesten Wandlungen und Ausdrücken, ist in jenen Bekenntnissen nicht nur Schilderung, sondern wirkliches Leben, so daß dieses Buch als wahrhafte Erbauung dienen kann, und schon oft mit dieser Wirkung gelesen worden ist. Der Graf Leopold Stolberg sonderte die Blätter, welche diese Bekenntnisse enthalten, von dem übrigen Roman sorg¬ sam aus, ließ sie einbinden, und hielt sie wie ein Kleinod, dessen Zusammenhang mit dem sonstigen, für ihn abstoßenden Inhalt des Wilhelm Meister er nicht anerkennen wollte! So viel ist gewiß, ein schö¬ neres, edleres, beruhigenderes Bild, als das dieser von ächter Frömmigkeit durch die Wogen der Welt glücklich durchgeführten Seele, vermag kein Dichter innerhalb
Zu dieſer Betrachtung veranlaßt uns der Anblick einiger Blaͤtter von und uͤber Fraͤulein von Kletten¬ berg, die uns zufaͤllig in die Haͤnde kommen, und durch deren Mittheilung wir viele Leſer zu verpflichten hoffen.
Fraͤulein von Klettenberg, welche als Stiftsdame in Frankfurt am Main lebte und mit dem Goethe’ſchen Hauſe innig befreundet war, iſt bekanntlich das Vorbild zu der „ſchoͤnen Seele“ im Wilhelm Meiſter, deren dort eingeſchaltete Bekenntniſſe eine der wunderbarſten Leiſtungen des dichtenden Genius ſind, indem derſelbe auch in den Gebieten, die ihm fremd ſcheinen, ſich vollkommen heimiſch und ſogar herrſchend erweiſt. Die reinſte Froͤmmigkeit, mit ihren zarteſten Wandlungen und Ausdruͤcken, iſt in jenen Bekenntniſſen nicht nur Schilderung, ſondern wirkliches Leben, ſo daß dieſes Buch als wahrhafte Erbauung dienen kann, und ſchon oft mit dieſer Wirkung geleſen worden iſt. Der Graf Leopold Stolberg ſonderte die Blaͤtter, welche dieſe Bekenntniſſe enthalten, von dem uͤbrigen Roman ſorg¬ ſam aus, ließ ſie einbinden, und hielt ſie wie ein Kleinod, deſſen Zuſammenhang mit dem ſonſtigen, fuͤr ihn abſtoßenden Inhalt des Wilhelm Meiſter er nicht anerkennen wollte! So viel iſt gewiß, ein ſchoͤ¬ neres, edleres, beruhigenderes Bild, als das dieſer von aͤchter Froͤmmigkeit durch die Wogen der Welt gluͤcklich durchgefuͤhrten Seele, vermag kein Dichter innerhalb
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Zu dieſer Betrachtung veranlaßt uns der Anblick
einiger Blaͤtter von und uͤber Fraͤulein von Kletten¬
berg, die uns zufaͤllig in die Haͤnde kommen, und
durch deren Mittheilung wir viele Leſer zu verpflichten
hoffen.
Fraͤulein von Klettenberg, welche als Stiftsdame
in Frankfurt am Main lebte und mit dem Goethe’ſchen
Hauſe innig befreundet war, iſt bekanntlich das Vorbild
zu der „ſchoͤnen Seele“ im Wilhelm Meiſter, deren
dort eingeſchaltete Bekenntniſſe eine der wunderbarſten
Leiſtungen des dichtenden Genius ſind, indem derſelbe
auch in den Gebieten, die ihm fremd ſcheinen, ſich
vollkommen heimiſch und ſogar herrſchend erweiſt. Die
reinſte Froͤmmigkeit, mit ihren zarteſten Wandlungen
und Ausdruͤcken, iſt in jenen Bekenntniſſen nicht nur
Schilderung, ſondern wirkliches Leben, ſo daß dieſes
Buch als wahrhafte Erbauung dienen kann, und ſchon
oft mit dieſer Wirkung geleſen worden iſt. Der Graf
Leopold Stolberg ſonderte die Blaͤtter, welche dieſe
Bekenntniſſe enthalten, von dem uͤbrigen Roman ſorg¬
ſam aus, ließ ſie einbinden, und hielt ſie wie ein
Kleinod, deſſen Zuſammenhang mit dem ſonſtigen,
fuͤr ihn abſtoßenden Inhalt des Wilhelm Meiſter er
nicht anerkennen wollte! So viel iſt gewiß, ein ſchoͤ¬
neres, edleres, beruhigenderes Bild, als das dieſer von
aͤchter Froͤmmigkeit durch die Wogen der Welt gluͤcklich
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 457. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/471>, abgerufen am 24.11.2024.
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