Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837.

Bild:
<< vorherige Seite

umfaßt werden kann, und doch der neuen Formen noch
durchaus entbehrt, in welchen es sich frei entfalten und
befriedigen dürfte. Dieser Kampf, ein unaufhörlich
wiederkehrendes Grundthema, setzt sich durch alle fol¬
genden Göthe'schen Werke in den mannigfachsten und
höchsten Gestalten fort; Egmont, Tasso, Hermann und
Dorothea, die natürliche Tochter, ja sogar Iphigenia --
durch dasjenige, was in diesem schönen Aufruf antiker
Welt doch als geheimer Lebensathem der Gegenwart
weht und wirkt -- die Wahlverwandtschaften, und be¬
sonders Wilhelm Meister, sind in solchem Betracht nur
engverbundene Glieder einer und derselben Reihe.

Daß der Mensch unsers Zeitalters nicht in ein
naturfreies Leben, sondern in eine künftige Welt hin¬
eingeboren wird, die, überall von Schranken durch¬
schnitten und abgetheilt, zum voraus längst in Besitz
genommen und durch Anhäufung todter Stoffe beengt,
den Ansprüchen der Entwickelung und des Berufs taub
oder gar feindlich ist, daß das neueintretende Dasein
ohne Boden in künstlich schwebende vielfach verworrene
Gewebe abgesetzt wird, worin dessen bester Theil nur
allzu oft untergeht oder traurig dahin siegt, diese Ein¬
sicht war schon dem Verfasser des Werther eigen. Hier
aber stehet die Verzweifelung noch ohne andern Aus¬
weg, als den die gewaltsame Selbstzerstörung ihr bietet.
In spätern Werken gesellt sich ihr schon eine Beigabe
von Trost und Heil. In Faust und Wilhelm Meister

umfaßt werden kann, und doch der neuen Formen noch
durchaus entbehrt, in welchen es ſich frei entfalten und
befriedigen duͤrfte. Dieſer Kampf, ein unaufhoͤrlich
wiederkehrendes Grundthema, ſetzt ſich durch alle fol¬
genden Goͤthe’ſchen Werke in den mannigfachſten und
hoͤchſten Geſtalten fort; Egmont, Taſſo, Hermann und
Dorothea, die natuͤrliche Tochter, ja ſogar Iphigenia —
durch dasjenige, was in dieſem ſchoͤnen Aufruf antiker
Welt doch als geheimer Lebensathem der Gegenwart
weht und wirkt — die Wahlverwandtſchaften, und be¬
ſonders Wilhelm Meiſter, ſind in ſolchem Betracht nur
engverbundene Glieder einer und derſelben Reihe.

Daß der Menſch unſers Zeitalters nicht in ein
naturfreies Leben, ſondern in eine kuͤnftige Welt hin¬
eingeboren wird, die, uͤberall von Schranken durch¬
ſchnitten und abgetheilt, zum voraus laͤngſt in Beſitz
genommen und durch Anhaͤufung todter Stoffe beengt,
den Anſpruͤchen der Entwickelung und des Berufs taub
oder gar feindlich iſt, daß das neueintretende Daſein
ohne Boden in kuͤnſtlich ſchwebende vielfach verworrene
Gewebe abgeſetzt wird, worin deſſen beſter Theil nur
allzu oft untergeht oder traurig dahin ſiegt, dieſe Ein¬
ſicht war ſchon dem Verfaſſer des Werther eigen. Hier
aber ſtehet die Verzweifelung noch ohne andern Aus¬
weg, als den die gewaltſame Selbſtzerſtoͤrung ihr bietet.
In ſpaͤtern Werken geſellt ſich ihr ſchon eine Beigabe
von Troſt und Heil. In Fauſt und Wilhelm Meiſter

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0435" n="421"/>
umfaßt werden kann, und doch der neuen Formen noch<lb/>
durchaus entbehrt, in welchen es &#x017F;ich frei entfalten und<lb/>
befriedigen du&#x0364;rfte. Die&#x017F;er Kampf, ein unaufho&#x0364;rlich<lb/>
wiederkehrendes Grundthema, &#x017F;etzt &#x017F;ich durch alle fol¬<lb/>
genden Go&#x0364;the&#x2019;&#x017F;chen Werke in den mannigfach&#x017F;ten und<lb/>
ho&#x0364;ch&#x017F;ten Ge&#x017F;talten fort; Egmont, Ta&#x017F;&#x017F;o, Hermann und<lb/>
Dorothea, die natu&#x0364;rliche Tochter, ja &#x017F;ogar Iphigenia &#x2014;<lb/>
durch dasjenige, was in die&#x017F;em &#x017F;cho&#x0364;nen Aufruf antiker<lb/>
Welt doch als geheimer Lebensathem der Gegenwart<lb/>
weht und wirkt &#x2014; die Wahlverwandt&#x017F;chaften, und be¬<lb/>
&#x017F;onders Wilhelm Mei&#x017F;ter, &#x017F;ind in &#x017F;olchem Betracht nur<lb/>
engverbundene Glieder einer und der&#x017F;elben Reihe.</p><lb/>
          <p>Daß der Men&#x017F;ch un&#x017F;ers Zeitalters nicht in ein<lb/>
naturfreies Leben, &#x017F;ondern in eine ku&#x0364;nftige Welt hin¬<lb/>
eingeboren wird, die, u&#x0364;berall von Schranken durch¬<lb/>
&#x017F;chnitten und abgetheilt, zum voraus la&#x0364;ng&#x017F;t in Be&#x017F;itz<lb/>
genommen und durch Anha&#x0364;ufung todter Stoffe beengt,<lb/>
den An&#x017F;pru&#x0364;chen der Entwickelung und des Berufs taub<lb/>
oder gar feindlich i&#x017F;t, daß das neueintretende Da&#x017F;ein<lb/>
ohne Boden in ku&#x0364;n&#x017F;tlich &#x017F;chwebende vielfach verworrene<lb/>
Gewebe abge&#x017F;etzt wird, worin de&#x017F;&#x017F;en be&#x017F;ter Theil nur<lb/>
allzu oft untergeht oder traurig dahin &#x017F;iegt, die&#x017F;e Ein¬<lb/>
&#x017F;icht war &#x017F;chon dem Verfa&#x017F;&#x017F;er des Werther eigen. Hier<lb/>
aber &#x017F;tehet die Verzweifelung noch ohne andern Aus¬<lb/>
weg, als den die gewalt&#x017F;ame Selb&#x017F;tzer&#x017F;to&#x0364;rung ihr bietet.<lb/>
In &#x017F;pa&#x0364;tern Werken ge&#x017F;ellt &#x017F;ich ihr &#x017F;chon eine Beigabe<lb/>
von Tro&#x017F;t und Heil. In Fau&#x017F;t und Wilhelm Mei&#x017F;ter<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[421/0435] umfaßt werden kann, und doch der neuen Formen noch durchaus entbehrt, in welchen es ſich frei entfalten und befriedigen duͤrfte. Dieſer Kampf, ein unaufhoͤrlich wiederkehrendes Grundthema, ſetzt ſich durch alle fol¬ genden Goͤthe’ſchen Werke in den mannigfachſten und hoͤchſten Geſtalten fort; Egmont, Taſſo, Hermann und Dorothea, die natuͤrliche Tochter, ja ſogar Iphigenia — durch dasjenige, was in dieſem ſchoͤnen Aufruf antiker Welt doch als geheimer Lebensathem der Gegenwart weht und wirkt — die Wahlverwandtſchaften, und be¬ ſonders Wilhelm Meiſter, ſind in ſolchem Betracht nur engverbundene Glieder einer und derſelben Reihe. Daß der Menſch unſers Zeitalters nicht in ein naturfreies Leben, ſondern in eine kuͤnftige Welt hin¬ eingeboren wird, die, uͤberall von Schranken durch¬ ſchnitten und abgetheilt, zum voraus laͤngſt in Beſitz genommen und durch Anhaͤufung todter Stoffe beengt, den Anſpruͤchen der Entwickelung und des Berufs taub oder gar feindlich iſt, daß das neueintretende Daſein ohne Boden in kuͤnſtlich ſchwebende vielfach verworrene Gewebe abgeſetzt wird, worin deſſen beſter Theil nur allzu oft untergeht oder traurig dahin ſiegt, dieſe Ein¬ ſicht war ſchon dem Verfaſſer des Werther eigen. Hier aber ſtehet die Verzweifelung noch ohne andern Aus¬ weg, als den die gewaltſame Selbſtzerſtoͤrung ihr bietet. In ſpaͤtern Werken geſellt ſich ihr ſchon eine Beigabe von Troſt und Heil. In Fauſt und Wilhelm Meiſter

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/435
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 421. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/435>, abgerufen am 18.05.2024.