Das Bild dieses Lebens konnte deßhalb nur um so reicher ausfallen, die Poesie vor allem erfüllte den Auftrag, dasselbe zu erfassen und in ihren ewigen Ge¬ stalten veredelt aufzubewahren, so redlich als glänzend.
Göthe's ganze Dichtung ist fast nur das Bild der Zerrüttungen einer mit sich selber in Zwiespalt gerathe¬ nen Welt, und wenn er auf der einen Seite die Ge¬ staltungen dieses Zwiespalts durch den Zauber und die Anmuth seines künstlerischen Genius mildert, jedes Vorhandene durch die ihm inwohnende Wahrheit in seiner Berechtigung zum Dasein darstellt, und somit gleichsam versöhnt und harmonisirt, so wird ihm von anderer Seite nicht erlassen, kraft eben derselben Kunst und Wahrheit auch manchen noch im Verborgenen ruhenden Widerstreit aus dem geheimen Dunkel her¬ vorzuziehen und grell und scharf an das Tageslicht zu bringen. In dieser Stellung und Aufgabe des Dichters liegt vollständig der Schlüssel zu allen verkehrten An¬ forderungen und Vorwürfen, welche ein beschränkter und von allem Unverstandenen beunruhigter Sinn von jeher dem Dichter in Betreff der Sittlichkeit machen will, die doch seinen Werken im höchsten Grade inwohnt, auch wo er sie für blöde Augen zu verletzen scheint.
Denn gerade die Zerrüttung und Auflösung der alten Lebensformen, welche längst krank und schadhaft das frische Leben an ihren Tod fesseln möchten, und dieses neue Werdende, welches noch keine Sanktion
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Das Bild dieſes Lebens konnte deßhalb nur um ſo reicher ausfallen, die Poeſie vor allem erfuͤllte den Auftrag, daſſelbe zu erfaſſen und in ihren ewigen Ge¬ ſtalten veredelt aufzubewahren, ſo redlich als glaͤnzend.
Goͤthe's ganze Dichtung iſt faſt nur das Bild der Zerruͤttungen einer mit ſich ſelber in Zwieſpalt gerathe¬ nen Welt, und wenn er auf der einen Seite die Ge¬ ſtaltungen dieſes Zwieſpalts durch den Zauber und die Anmuth ſeines kuͤnſtleriſchen Genius mildert, jedes Vorhandene durch die ihm inwohnende Wahrheit in ſeiner Berechtigung zum Daſein darſtellt, und ſomit gleichſam verſoͤhnt und harmoniſirt, ſo wird ihm von anderer Seite nicht erlaſſen, kraft eben derſelben Kunſt und Wahrheit auch manchen noch im Verborgenen ruhenden Widerſtreit aus dem geheimen Dunkel her¬ vorzuziehen und grell und ſcharf an das Tageslicht zu bringen. In dieſer Stellung und Aufgabe des Dichters liegt vollſtaͤndig der Schluͤſſel zu allen verkehrten An¬ forderungen und Vorwuͤrfen, welche ein beſchraͤnkter und von allem Unverſtandenen beunruhigter Sinn von jeher dem Dichter in Betreff der Sittlichkeit machen will, die doch ſeinen Werken im hoͤchſten Grade inwohnt, auch wo er ſie fuͤr bloͤde Augen zu verletzen ſcheint.
Denn gerade die Zerruͤttung und Aufloͤſung der alten Lebensformen, welche laͤngſt krank und ſchadhaft das friſche Leben an ihren Tod feſſeln moͤchten, und dieſes neue Werdende, welches noch keine Sanktion
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Das Bild dieſes Lebens konnte deßhalb nur um ſo
reicher ausfallen, die Poeſie vor allem erfuͤllte den
Auftrag, daſſelbe zu erfaſſen und in ihren ewigen Ge¬
ſtalten veredelt aufzubewahren, ſo redlich als glaͤnzend.
Goͤthe's ganze Dichtung iſt faſt nur das Bild der
Zerruͤttungen einer mit ſich ſelber in Zwieſpalt gerathe¬
nen Welt, und wenn er auf der einen Seite die Ge¬
ſtaltungen dieſes Zwieſpalts durch den Zauber und die
Anmuth ſeines kuͤnſtleriſchen Genius mildert, jedes
Vorhandene durch die ihm inwohnende Wahrheit in
ſeiner Berechtigung zum Daſein darſtellt, und ſomit
gleichſam verſoͤhnt und harmoniſirt, ſo wird ihm von
anderer Seite nicht erlaſſen, kraft eben derſelben Kunſt
und Wahrheit auch manchen noch im Verborgenen
ruhenden Widerſtreit aus dem geheimen Dunkel her¬
vorzuziehen und grell und ſcharf an das Tageslicht zu
bringen. In dieſer Stellung und Aufgabe des Dichters
liegt vollſtaͤndig der Schluͤſſel zu allen verkehrten An¬
forderungen und Vorwuͤrfen, welche ein beſchraͤnkter
und von allem Unverſtandenen beunruhigter Sinn von
jeher dem Dichter in Betreff der Sittlichkeit machen
will, die doch ſeinen Werken im hoͤchſten Grade inwohnt,
auch wo er ſie fuͤr bloͤde Augen zu verletzen ſcheint.
Denn gerade die Zerruͤttung und Aufloͤſung der
alten Lebensformen, welche laͤngſt krank und ſchadhaft
das friſche Leben an ihren Tod feſſeln moͤchten, und
dieſes neue Werdende, welches noch keine Sanktion
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 419. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/433>, abgerufen am 22.11.2024.
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