analytisch aus dem Erkenntnißvermögen abgeleitet, son¬ dern synthetisch als Dogmatismus dargestellt, von mir gedacht worden wäre, arbeitete ich, als mir von einem meiner Freunde gesagt wurde, er hätte eine Anzeige von Kant's Schriften gelesen, aus der hervorginge, daß Kant die Unmöglichkeit der Begründung des Wol¬ fischen Dogmatismus zeigen wollte. So wie ich dies hörte, so war auch mein Vorsatz gefaßt, Kant's Schriften zu lesen und zu widerlegen, um für mein System Raum zu gewinnen. Dies war im Frühjahr 1786.
Was Kant in der transcendentalen Aesthetik vor¬ trug, das schien meinem System nicht entgegen, denn an die Idealität des Raums und der Zeit hatte mich die Leibnitzische Art zu philosophiren gewöhnt, und ich begriff nicht sogleich, wie sehr dieser die Kantische Dar¬ stellung entgegen war, zumal da ich nach Lamberts Erinnerung, daß Leibnitz in seiner Erklärung des Raums, "er sei die Ordnung der Dinge außer uns," in dem Worte "außer uns" ja schon den Raum voraussetze, an dieser Erklärung gekünstelt hatte. Ich fand daher in der ganzen Analytik wenig Anstoß, und erst die Paralogismen der reinen Vernunft machten mich auf die gänzliche Verschiedenheit des Wolfischen Dogmatis¬ mus mit Kants Kriticismus aufmerksam, aber ich gab noch die Hoffnung, ihn da, wo er jenem entgegen stehe, zu widerlegen, nicht auf. Die Antinomien weckten meine höchste Anstrengung, und ich entdeckte die Wortspiele
analytiſch aus dem Erkenntnißvermoͤgen abgeleitet, ſon¬ dern ſynthetiſch als Dogmatismus dargeſtellt, von mir gedacht worden waͤre, arbeitete ich, als mir von einem meiner Freunde geſagt wurde, er haͤtte eine Anzeige von Kant’s Schriften geleſen, aus der hervorginge, daß Kant die Unmoͤglichkeit der Begruͤndung des Wol¬ fiſchen Dogmatismus zeigen wollte. So wie ich dies hoͤrte, ſo war auch mein Vorſatz gefaßt, Kant’s Schriften zu leſen und zu widerlegen, um fuͤr mein Syſtem Raum zu gewinnen. Dies war im Fruͤhjahr 1786.
Was Kant in der transcendentalen Aeſthetik vor¬ trug, das ſchien meinem Syſtem nicht entgegen, denn an die Idealitaͤt des Raums und der Zeit hatte mich die Leibnitziſche Art zu philoſophiren gewoͤhnt, und ich begriff nicht ſogleich, wie ſehr dieſer die Kantiſche Dar¬ ſtellung entgegen war, zumal da ich nach Lamberts Erinnerung, daß Leibnitz in ſeiner Erklaͤrung des Raums, „er ſei die Ordnung der Dinge außer uns,” in dem Worte „außer uns” ja ſchon den Raum vorausſetze, an dieſer Erklaͤrung gekuͤnſtelt hatte. Ich fand daher in der ganzen Analytik wenig Anſtoß, und erſt die Paralogismen der reinen Vernunft machten mich auf die gaͤnzliche Verſchiedenheit des Wolfiſchen Dogmatis¬ mus mit Kants Kriticismus aufmerkſam, aber ich gab noch die Hoffnung, ihn da, wo er jenem entgegen ſtehe, zu widerlegen, nicht auf. Die Antinomien weckten meine hoͤchſte Anſtrengung, und ich entdeckte die Wortſpiele
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analytiſch aus dem Erkenntnißvermoͤgen abgeleitet, ſon¬
dern ſynthetiſch als Dogmatismus dargeſtellt, von mir
gedacht worden waͤre, arbeitete ich, als mir von einem
meiner Freunde geſagt wurde, er haͤtte eine Anzeige
von Kant’s Schriften geleſen, aus der hervorginge,
daß Kant die Unmoͤglichkeit der Begruͤndung des Wol¬
fiſchen Dogmatismus zeigen wollte. So wie ich dies
hoͤrte, ſo war auch mein Vorſatz gefaßt, Kant’s Schriften
zu leſen und zu widerlegen, um fuͤr mein Syſtem Raum
zu gewinnen. Dies war im Fruͤhjahr 1786.
Was Kant in der transcendentalen Aeſthetik vor¬
trug, das ſchien meinem Syſtem nicht entgegen, denn
an die Idealitaͤt des Raums und der Zeit hatte mich
die Leibnitziſche Art zu philoſophiren gewoͤhnt, und ich
begriff nicht ſogleich, wie ſehr dieſer die Kantiſche Dar¬
ſtellung entgegen war, zumal da ich nach Lamberts
Erinnerung, daß Leibnitz in ſeiner Erklaͤrung des Raums,
„er ſei die Ordnung der Dinge außer uns,” in dem
Worte „außer uns” ja ſchon den Raum vorausſetze,
an dieſer Erklaͤrung gekuͤnſtelt hatte. Ich fand daher
in der ganzen Analytik wenig Anſtoß, und erſt die
Paralogismen der reinen Vernunft machten mich auf
die gaͤnzliche Verſchiedenheit des Wolfiſchen Dogmatis¬
mus mit Kants Kriticismus aufmerkſam, aber ich gab
noch die Hoffnung, ihn da, wo er jenem entgegen ſtehe,
zu widerlegen, nicht auf. Die Antinomien weckten meine
hoͤchſte Anſtrengung, und ich entdeckte die Wortſpiele
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/252>, abgerufen am 24.11.2024.
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