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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837.

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ich vom Freunde meines Onkels, an den die Briefe adressirt
sind, er sei bis jetzt noch nicht in Paris angekommen. Meine
Briefe liegen also noch bei diesem Freunde; daß mein Onkel sie
aber nicht schriftlich abgefordert, ist wenigstens ein Beweis, daß
er nach Paris kommen wird. Irgend etwas muß ihn auf¬
gehalten haben; Sie wissen indeß, wie ich von Ihnen wegging,
können sich also das Unangenehme meiner gegenwärtigen Lage
denken, und werden mich entschuldigen.

Die Unannehmlichkeiten abgerechnet, worein man sich fügen
muß, befind' ich mich wohl. Das genauere Studium der fran¬
zösischen Geschichte, vorzüglich in den letzten Jahrhunderten, und
die Verfolgung des Spiels menschlicher Leidenschaften, im Gewirre
der Gegenwart, machen meine Zeit interessant und nützlich; und
der Umgang in der Familie des Herrn von Türckheim, worin
einige ausgezeichnet gute Menschen sich befinden, und verschiedene
junge Frauenzimmer, von denen es schwer fällt zu entscheiden,
ob sie mehr schön oder witzig sind -- gewährt mir mehr ver¬
gnügte Stunden, als ein genügsamer Mann zur glücklichen Exi¬
stenz von Rechts wegen nöthig hat. Noch vollhaltiger an Interesse
und Lebhaftigkeit würden diese Gesellschaften sein, hätten nicht
die politischen Unruhen ihnen verschiedene der besten Mitglieder
entwandt. Ueberall ist Uneinigkeit und Spaltung, überall begeg¬
net man den traurigen Folgen davon -- die Demokraten sagen,
das sind unvermeidliche Uebel -- aber die guten Früchte der gegen¬
wärtigen Verfassung sucht man vergeblich. Die Demokraten selbst
sind uneins. Die Mitglieder des deutschen Klubs geriethen vor
sechs Tagen so heftig aneinander, daß die Wache kommen mußte,
sie zu beruhigen. Seitdem sind über die Hälfte der Mitglieder
-- Halb-Aristokraten -- in eine neue Gesellschaft zusammenge¬
treten. Viele sind gegen den Maire aufgebracht, stündlich erschei¬
nen Broschüren für und wider. Die Hälfte der Bürger glaubt

ich vom Freunde meines Onkels, an den die Briefe adreſſirt
ſind, er ſei bis jetzt noch nicht in Paris angekommen. Meine
Briefe liegen alſo noch bei dieſem Freunde; daß mein Onkel ſie
aber nicht ſchriftlich abgefordert, iſt wenigſtens ein Beweis, daß
er nach Paris kommen wird. Irgend etwas muß ihn auf¬
gehalten haben; Sie wiſſen indeß, wie ich von Ihnen wegging,
koͤnnen ſich alſo das Unangenehme meiner gegenwaͤrtigen Lage
denken, und werden mich entſchuldigen.

Die Unannehmlichkeiten abgerechnet, worein man ſich fuͤgen
muß, befind’ ich mich wohl. Das genauere Studium der fran¬
zoͤſiſchen Geſchichte, vorzuͤglich in den letzten Jahrhunderten, und
die Verfolgung des Spiels menſchlicher Leidenſchaften, im Gewirre
der Gegenwart, machen meine Zeit intereſſant und nuͤtzlich; und
der Umgang in der Familie des Herrn von Tuͤrckheim, worin
einige ausgezeichnet gute Menſchen ſich befinden, und verſchiedene
junge Frauenzimmer, von denen es ſchwer faͤllt zu entſcheiden,
ob ſie mehr ſchoͤn oder witzig ſind — gewaͤhrt mir mehr ver¬
gnuͤgte Stunden, als ein genuͤgſamer Mann zur gluͤcklichen Exi¬
ſtenz von Rechts wegen noͤthig hat. Noch vollhaltiger an Intereſſe
und Lebhaftigkeit wuͤrden dieſe Geſellſchaften ſein, haͤtten nicht
die politiſchen Unruhen ihnen verſchiedene der beſten Mitglieder
entwandt. Ueberall iſt Uneinigkeit und Spaltung, uͤberall begeg¬
net man den traurigen Folgen davon — die Demokraten ſagen,
das ſind unvermeidliche Uebel — aber die guten Fruͤchte der gegen¬
waͤrtigen Verfaſſung ſucht man vergeblich. Die Demokraten ſelbſt
ſind uneins. Die Mitglieder des deutſchen Klubs geriethen vor
ſechs Tagen ſo heftig aneinander, daß die Wache kommen mußte,
ſie zu beruhigen. Seitdem ſind uͤber die Haͤlfte der Mitglieder
— Halb-Ariſtokraten — in eine neue Geſellſchaft zuſammenge¬
treten. Viele ſind gegen den Maire aufgebracht, ſtuͤndlich erſchei¬
nen Broſchuͤren fuͤr und wider. Die Haͤlfte der Buͤrger glaubt

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[11/0025] ich vom Freunde meines Onkels, an den die Briefe adreſſirt ſind, er ſei bis jetzt noch nicht in Paris angekommen. Meine Briefe liegen alſo noch bei dieſem Freunde; daß mein Onkel ſie aber nicht ſchriftlich abgefordert, iſt wenigſtens ein Beweis, daß er nach Paris kommen wird. Irgend etwas muß ihn auf¬ gehalten haben; Sie wiſſen indeß, wie ich von Ihnen wegging, koͤnnen ſich alſo das Unangenehme meiner gegenwaͤrtigen Lage denken, und werden mich entſchuldigen. Die Unannehmlichkeiten abgerechnet, worein man ſich fuͤgen muß, befind’ ich mich wohl. Das genauere Studium der fran¬ zoͤſiſchen Geſchichte, vorzuͤglich in den letzten Jahrhunderten, und die Verfolgung des Spiels menſchlicher Leidenſchaften, im Gewirre der Gegenwart, machen meine Zeit intereſſant und nuͤtzlich; und der Umgang in der Familie des Herrn von Tuͤrckheim, worin einige ausgezeichnet gute Menſchen ſich befinden, und verſchiedene junge Frauenzimmer, von denen es ſchwer faͤllt zu entſcheiden, ob ſie mehr ſchoͤn oder witzig ſind — gewaͤhrt mir mehr ver¬ gnuͤgte Stunden, als ein genuͤgſamer Mann zur gluͤcklichen Exi¬ ſtenz von Rechts wegen noͤthig hat. Noch vollhaltiger an Intereſſe und Lebhaftigkeit wuͤrden dieſe Geſellſchaften ſein, haͤtten nicht die politiſchen Unruhen ihnen verſchiedene der beſten Mitglieder entwandt. Ueberall iſt Uneinigkeit und Spaltung, uͤberall begeg¬ net man den traurigen Folgen davon — die Demokraten ſagen, das ſind unvermeidliche Uebel — aber die guten Fruͤchte der gegen¬ waͤrtigen Verfaſſung ſucht man vergeblich. Die Demokraten ſelbſt ſind uneins. Die Mitglieder des deutſchen Klubs geriethen vor ſechs Tagen ſo heftig aneinander, daß die Wache kommen mußte, ſie zu beruhigen. Seitdem ſind uͤber die Haͤlfte der Mitglieder — Halb-Ariſtokraten — in eine neue Geſellſchaft zuſammenge¬ treten. Viele ſind gegen den Maire aufgebracht, ſtuͤndlich erſchei¬ nen Broſchuͤren fuͤr und wider. Die Haͤlfte der Buͤrger glaubt

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/25>, abgerufen am 22.11.2024.