Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Uz, Johann Peter: Lyrische und andere Gedichte. 2. Aufl. Ansbach, 1755.

Bild:
<< vorherige Seite
Lyrische Gedichte
Die ihr ein Stück vom Ganzen trennet,
Vom Ganzen, das ihr bloß nach euerm Winkel kennet;
Verwegen tadelt ihr, was Weise nicht verstehn.
O könnten wir die Welt im Ganzen übersehn,
Wie würden sich die dunkeln Flecken
Vor unserm Blick in grössern Glanz verstecken!
Soll Welten alles Böse fehlen?
So musste nie den Staub der Gottheit Hauch beseelen;
Denn alles Böse quillt bloß aus des Menschen Brust:
So muß der Mensch nicht seyn: welch grösserer Verlust!
Die ganze Schöpfung würde trauern,
Die Tugend fliehn und ihren Freund bedauern.
Jhr Weisen! hättet nie entzücket,
Die ihr die Schöpfung mehr, als hundert Sonnen, schmücket,
Und Ordnung herrschte nicht im Reiche der Natur,
Die niemals flüchtig springt, und stuffenweise nur
Auf ihrer güldnen Leiter steiget,
Wo sich der Mensch auf mittlern Sprossen zeiget.
Vorm
Lyriſche Gedichte
Die ihr ein Stuͤck vom Ganzen trennet,
Vom Ganzen, das ihr bloß nach euerm Winkel kennet;
Verwegen tadelt ihr, was Weiſe nicht verſtehn.
O koͤnnten wir die Welt im Ganzen uͤberſehn,
Wie wuͤrden ſich die dunkeln Flecken
Vor unſerm Blick in groͤſſern Glanz verſtecken!
Soll Welten alles Boͤſe fehlen?
So muſſte nie den Staub der Gottheit Hauch beſeelen;
Denn alles Boͤſe quillt bloß aus des Menſchen Bruſt:
So muß der Menſch nicht ſeyn: welch groͤſſerer Verluſt!
Die ganze Schoͤpfung wuͤrde trauern,
Die Tugend fliehn und ihren Freund bedauern.
Jhr Weiſen! haͤttet nie entzuͤcket,
Die ihr die Schoͤpfung mehr, als hundert Sonnen, ſchmuͤcket,
Und Ordnung herrſchte nicht im Reiche der Natur,
Die niemals fluͤchtig ſpringt, und ſtuffenweiſe nur
Auf ihrer guͤldnen Leiter ſteiget,
Wo ſich der Menſch auf mittlern Sproſſen zeiget.
Vorm
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <lg type="poem">
            <pb facs="#f0176" n="162"/>
            <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Lyri&#x017F;che Gedichte</hi> </fw><lb/>
            <lg n="16">
              <l><hi rendition="#in">D</hi>ie ihr ein Stu&#x0364;ck vom Ganzen trennet,</l><lb/>
              <l>Vom Ganzen, das ihr bloß nach euerm Winkel kennet;</l><lb/>
              <l>Verwegen tadelt ihr, was Wei&#x017F;e nicht ver&#x017F;tehn.</l><lb/>
              <l>O ko&#x0364;nnten wir die Welt im Ganzen u&#x0364;ber&#x017F;ehn,</l><lb/>
              <l>Wie wu&#x0364;rden &#x017F;ich die dunkeln Flecken</l><lb/>
              <l>Vor un&#x017F;erm Blick in gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;ern Glanz ver&#x017F;tecken!</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="17">
              <l><hi rendition="#in">S</hi>oll Welten alles Bo&#x0364;&#x017F;e fehlen?</l><lb/>
              <l>So mu&#x017F;&#x017F;te nie den Staub der Gottheit Hauch be&#x017F;eelen;</l><lb/>
              <l>Denn alles Bo&#x0364;&#x017F;e quillt bloß aus des Men&#x017F;chen Bru&#x017F;t:</l><lb/>
              <l>So muß der Men&#x017F;ch nicht &#x017F;eyn: welch gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;erer Verlu&#x017F;t!</l><lb/>
              <l>Die ganze Scho&#x0364;pfung wu&#x0364;rde trauern,</l><lb/>
              <l>Die Tugend fliehn und ihren Freund bedauern.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="18">
              <l><hi rendition="#in">J</hi>hr Wei&#x017F;en! ha&#x0364;ttet nie entzu&#x0364;cket,</l><lb/>
              <l>Die ihr die Scho&#x0364;pfung mehr, als hundert Sonnen, &#x017F;chmu&#x0364;cket,</l><lb/>
              <l>Und Ordnung herr&#x017F;chte nicht im Reiche der Natur,</l><lb/>
              <l>Die niemals flu&#x0364;chtig &#x017F;pringt, und &#x017F;tuffenwei&#x017F;e nur</l><lb/>
              <l>Auf ihrer gu&#x0364;ldnen Leiter &#x017F;teiget,</l><lb/>
              <l>Wo &#x017F;ich der Men&#x017F;ch auf mittlern Spro&#x017F;&#x017F;en zeiget.</l>
            </lg><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch">Vorm</fw><lb/>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[162/0176] Lyriſche Gedichte Die ihr ein Stuͤck vom Ganzen trennet, Vom Ganzen, das ihr bloß nach euerm Winkel kennet; Verwegen tadelt ihr, was Weiſe nicht verſtehn. O koͤnnten wir die Welt im Ganzen uͤberſehn, Wie wuͤrden ſich die dunkeln Flecken Vor unſerm Blick in groͤſſern Glanz verſtecken! Soll Welten alles Boͤſe fehlen? So muſſte nie den Staub der Gottheit Hauch beſeelen; Denn alles Boͤſe quillt bloß aus des Menſchen Bruſt: So muß der Menſch nicht ſeyn: welch groͤſſerer Verluſt! Die ganze Schoͤpfung wuͤrde trauern, Die Tugend fliehn und ihren Freund bedauern. Jhr Weiſen! haͤttet nie entzuͤcket, Die ihr die Schoͤpfung mehr, als hundert Sonnen, ſchmuͤcket, Und Ordnung herrſchte nicht im Reiche der Natur, Die niemals fluͤchtig ſpringt, und ſtuffenweiſe nur Auf ihrer guͤldnen Leiter ſteiget, Wo ſich der Menſch auf mittlern Sproſſen zeiget. Vorm

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Die Erstausgabe der vorliegenden Gedichtsammlung … [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/uz_gedichte_1755
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/uz_gedichte_1755/176
Zitationshilfe: Uz, Johann Peter: Lyrische und andere Gedichte. 2. Aufl. Ansbach, 1755, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/uz_gedichte_1755/176>, abgerufen am 25.11.2024.