Hand zu kommen scheinen, und sie wird exst bey genauerer Untersuchung gewahr, daß ihre Schätzung irrig sey. Die- ser Fall, wo sie keine wahre äußere Empfindung aus der linken Hand hat, kann also keinesweges erweisen, daß ei- ne wahre äußere Empfindung eines äußern sinnlichen Ein- drucks von einem entferntern Orte als dem wahren Berüh- rungspunkte des Nerven in die Seele kommen könne: son- dern blos, daß sie in ihrem Urtheile über ihre äußern Em- pfindungen zuweilen irren könne, welches ein Fehler ihrer Beurtheilungskraft, aber nicht ihrer Empfindungskraft ist. Auf gleiche Weise muß man tausend andere Erfahrungen beurtheilen, da man in verlorenen Gliedern äußere Empfin- dungen zu haben glaubet, oder da man bey zerbrochenen Gliedern den Berührungspunkt des Gefühls in der natür- lichen Richtungslinie suchet, und denselben an einer ganz andern Stelle findet.
§. 39.
Es können in mehrere Nerven zugleich äußere sinnliche Eindrücke geschehen, und die Seele kann alle und jede da- von herrührende äußere Empfindungen unterscheiden, ob- gleich die Eindrücke aus den verschiedensten Nervenzweigen oft in einem gemeinschaftlichen Stamme, z. E. im Rücken- marke, zusammenkommen, ehe sie zum Gehirne gelangen und darinn die materielle Jder der äußern Empsindung formiren. Ja es können sogar in einerley Nerven zugleich verschiedene äußere sinnliche Eindrücke gemachet werden, die die Seele aufs genaueste unterscheidet, so daß also jeder äußere sinnliche Eindruck in jedem Punkte eines Nerven seinen ungehinderten Gang zum Gehirne gehen, und daselbst die ihm einzige und von allen andern verschiedene materielle äußere Empfindung formiren kann, ohne sich weder auf sei- nem Wege mit andern in eben dem Nerven zugleich aufstei- genden Eindrücken, noch mit den materiellen Empfindun- gen, die sie zugleich im Gehirne hervorbringen, auf einige Weise zu verwirren oder zu vermischen. Die Ursache hier-
von
I Th. Thier. Seelenkr. 2 Kap. An ſich betr.
Hand zu kommen ſcheinen, und ſie wird exſt bey genauerer Unterſuchung gewahr, daß ihre Schaͤtzung irrig ſey. Die- ſer Fall, wo ſie keine wahre aͤußere Empfindung aus der linken Hand hat, kann alſo keinesweges erweiſen, daß ei- ne wahre aͤußere Empfindung eines aͤußern ſinnlichen Ein- drucks von einem entferntern Orte als dem wahren Beruͤh- rungspunkte des Nerven in die Seele kommen koͤnne: ſon- dern blos, daß ſie in ihrem Urtheile uͤber ihre aͤußern Em- pfindungen zuweilen irren koͤnne, welches ein Fehler ihrer Beurtheilungskraft, aber nicht ihrer Empfindungskraft iſt. Auf gleiche Weiſe muß man tauſend andere Erfahrungen beurtheilen, da man in verlorenen Gliedern aͤußere Empfin- dungen zu haben glaubet, oder da man bey zerbrochenen Gliedern den Beruͤhrungspunkt des Gefuͤhls in der natuͤr- lichen Richtungslinie ſuchet, und denſelben an einer ganz andern Stelle findet.
§. 39.
Es koͤnnen in mehrere Nerven zugleich aͤußere ſinnliche Eindruͤcke geſchehen, und die Seele kann alle und jede da- von herruͤhrende aͤußere Empfindungen unterſcheiden, ob- gleich die Eindruͤcke aus den verſchiedenſten Nervenzweigen oft in einem gemeinſchaftlichen Stamme, z. E. im Ruͤcken- marke, zuſammenkommen, ehe ſie zum Gehirne gelangen und darinn die materielle Jder der aͤußern Empſindung formiren. Ja es koͤnnen ſogar in einerley Nerven zugleich verſchiedene aͤußere ſinnliche Eindruͤcke gemachet werden, die die Seele aufs genaueſte unterſcheidet, ſo daß alſo jeder aͤußere ſinnliche Eindruck in jedem Punkte eines Nerven ſeinen ungehinderten Gang zum Gehirne gehen, und daſelbſt die ihm einzige und von allen andern verſchiedene materielle aͤußere Empfindung formiren kann, ohne ſich weder auf ſei- nem Wege mit andern in eben dem Nerven zugleich aufſtei- genden Eindruͤcken, noch mit den materiellen Empfindun- gen, die ſie zugleich im Gehirne hervorbringen, auf einige Weiſe zu verwirren oder zu vermiſchen. Die Urſache hier-
von
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I Th. Thier. Seelenkr. 2 Kap. An ſich betr.
Hand zu kommen ſcheinen, und ſie wird exſt bey genauerer
Unterſuchung gewahr, daß ihre Schaͤtzung irrig ſey. Die-
ſer Fall, wo ſie keine wahre aͤußere Empfindung aus der
linken Hand hat, kann alſo keinesweges erweiſen, daß ei-
ne wahre aͤußere Empfindung eines aͤußern ſinnlichen Ein-
drucks von einem entferntern Orte als dem wahren Beruͤh-
rungspunkte des Nerven in die Seele kommen koͤnne: ſon-
dern blos, daß ſie in ihrem Urtheile uͤber ihre aͤußern Em-
pfindungen zuweilen irren koͤnne, welches ein Fehler ihrer
Beurtheilungskraft, aber nicht ihrer Empfindungskraft iſt.
Auf gleiche Weiſe muß man tauſend andere Erfahrungen
beurtheilen, da man in verlorenen Gliedern aͤußere Empfin-
dungen zu haben glaubet, oder da man bey zerbrochenen
Gliedern den Beruͤhrungspunkt des Gefuͤhls in der natuͤr-
lichen Richtungslinie ſuchet, und denſelben an einer ganz
andern Stelle findet.
§. 39.
Es koͤnnen in mehrere Nerven zugleich aͤußere ſinnliche
Eindruͤcke geſchehen, und die Seele kann alle und jede da-
von herruͤhrende aͤußere Empfindungen unterſcheiden, ob-
gleich die Eindruͤcke aus den verſchiedenſten Nervenzweigen
oft in einem gemeinſchaftlichen Stamme, z. E. im Ruͤcken-
marke, zuſammenkommen, ehe ſie zum Gehirne gelangen
und darinn die materielle Jder der aͤußern Empſindung
formiren. Ja es koͤnnen ſogar in einerley Nerven zugleich
verſchiedene aͤußere ſinnliche Eindruͤcke gemachet werden,
die die Seele aufs genaueſte unterſcheidet, ſo daß alſo jeder
aͤußere ſinnliche Eindruck in jedem Punkte eines Nerven
ſeinen ungehinderten Gang zum Gehirne gehen, und daſelbſt
die ihm einzige und von allen andern verſchiedene materielle
aͤußere Empfindung formiren kann, ohne ſich weder auf ſei-
nem Wege mit andern in eben dem Nerven zugleich aufſtei-
genden Eindruͤcken, noch mit den materiellen Empfindun-
gen, die ſie zugleich im Gehirne hervorbringen, auf einige
Weiſe zu verwirren oder zu vermiſchen. Die Urſache hier-
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Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771/80>, abgerufen am 23.11.2024.
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