Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771.1 Abschn. Ersetz. der Seelenw. durch Nervenw. zufällig, und so sehr vom weiten her auf diese Empfindungbeziehen, oder von ihr herrühren, als irgend eine Vorstel- lung des Verstandes, und die folglich von dem äußern sinnlichen Eindrucke, der diese äußere Empfindung giebt, gar nicht wesentlich gewirket, sondern gänzlich nach den psychologischen Gesetzen der Vorstellungskraft in die Reihe gebracht werden. §. 108. Da aber eben diese Vorstel- lungen gleichwohl die Triebfedern der Leidenschaft sind, die sie zur Wirklichkeit bringen, §. 88. so werden auch die Seelenwirkungen einer solchen Leidenschaft im Körper nicht wesentlich von der sie ursprünglich veranlassenden materiel- len äußern Empfindung verursachet, mithin kann sie auch der äußere sinnliche Eindruck dieser Empfindung unmög- lich, weder als Seelenwirkung noch als Nervenwirkung, wesentlich, und nach den bloßen Gesetzen der Nervenkräfte hervorbringen. §. 98. N. 3. Ein Beyspiel wird dieses erklären. Jemand sieht einen Menschen, der seinem ver- storbenen Freunde ähnlich ist. Dieß ist die erste äußere Empfindung, wovon alles Folgende bis zur Leidenschaft abhängt. Nach den psychologischen Gesetzen der Vorstel- lungskraft erkennt die Seele diese Aehnlichkeit, und dieß ist die erste Zwischenvorstellung, die sich mit dieser Em- pfindung nicht nach den Gesetzen der Nervenkräfte verknü- pfet. Daraus entsteht die Einbildung des verstorbenen Freundes, welche mit der Empfindung nur die ähnlichen Merkmale beyder Personen gemein hat. Nun erinnert das Gedächtniß sich des Todes dieses Freundes und aller Umstände desselben, womit die gegenwärtige Empfindung nichts mehr gemein hat. Endlich kömmt die Vorherse- hung dazu, daß der Tod allen künftigen Umgang mit ihm aufgehoben habe. Diese Vorhersehung ist unangenehm, und die Seele bemühet sich nach psychologischen Gesetzen, das Gegentheil dieser unangenehmen Vorstellung hervor- zubringen. Jn der Anstrengung der Vorstellungskraft, um dieß zu bewerkstelligen, besteht die Leidenschaft der Trau- rigkeit, die dieser Anblick erreget. Was ist nun wohl aus der N n 4
1 Abſchn. Erſetz. der Seelenw. durch Nervenw. zufaͤllig, und ſo ſehr vom weiten her auf dieſe Empfindungbeziehen, oder von ihr herruͤhren, als irgend eine Vorſtel- lung des Verſtandes, und die folglich von dem aͤußern ſinnlichen Eindrucke, der dieſe aͤußere Empfindung giebt, gar nicht weſentlich gewirket, ſondern gaͤnzlich nach den pſychologiſchen Geſetzen der Vorſtellungskraft in die Reihe gebracht werden. §. 108. Da aber eben dieſe Vorſtel- lungen gleichwohl die Triebfedern der Leidenſchaft ſind, die ſie zur Wirklichkeit bringen, §. 88. ſo werden auch die Seelenwirkungen einer ſolchen Leidenſchaft im Koͤrper nicht weſentlich von der ſie urſpruͤnglich veranlaſſenden materiel- len aͤußern Empfindung verurſachet, mithin kann ſie auch der aͤußere ſinnliche Eindruck dieſer Empfindung unmoͤg- lich, weder als Seelenwirkung noch als Nervenwirkung, weſentlich, und nach den bloßen Geſetzen der Nervenkraͤfte hervorbringen. §. 98. N. 3. Ein Beyſpiel wird dieſes erklaͤren. Jemand ſieht einen Menſchen, der ſeinem ver- ſtorbenen Freunde aͤhnlich iſt. Dieß iſt die erſte aͤußere Empfindung, wovon alles Folgende bis zur Leidenſchaft abhaͤngt. Nach den pſychologiſchen Geſetzen der Vorſtel- lungskraft erkennt die Seele dieſe Aehnlichkeit, und dieß iſt die erſte Zwiſchenvorſtellung, die ſich mit dieſer Em- pfindung nicht nach den Geſetzen der Nervenkraͤfte verknuͤ- pfet. Daraus entſteht die Einbildung des verſtorbenen Freundes, welche mit der Empfindung nur die aͤhnlichen Merkmale beyder Perſonen gemein hat. Nun erinnert das Gedaͤchtniß ſich des Todes dieſes Freundes und aller Umſtaͤnde deſſelben, womit die gegenwaͤrtige Empfindung nichts mehr gemein hat. Endlich koͤmmt die Vorherſe- hung dazu, daß der Tod allen kuͤnftigen Umgang mit ihm aufgehoben habe. Dieſe Vorherſehung iſt unangenehm, und die Seele bemuͤhet ſich nach pſychologiſchen Geſetzen, das Gegentheil dieſer unangenehmen Vorſtellung hervor- zubringen. Jn der Anſtrengung der Vorſtellungskraft, um dieß zu bewerkſtelligen, beſteht die Leidenſchaft der Trau- rigkeit, die dieſer Anblick erreget. Was iſt nun wohl aus der N n 4
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1 Abſchn. Erſetz. der Seelenw. durch Nervenw.
zufaͤllig, und ſo ſehr vom weiten her auf dieſe Empfindung
beziehen, oder von ihr herruͤhren, als irgend eine Vorſtel-
lung des Verſtandes, und die folglich von dem aͤußern
ſinnlichen Eindrucke, der dieſe aͤußere Empfindung giebt,
gar nicht weſentlich gewirket, ſondern gaͤnzlich nach den
pſychologiſchen Geſetzen der Vorſtellungskraft in die Reihe
gebracht werden. §. 108. Da aber eben dieſe Vorſtel-
lungen gleichwohl die Triebfedern der Leidenſchaft ſind, die
ſie zur Wirklichkeit bringen, §. 88. ſo werden auch die
Seelenwirkungen einer ſolchen Leidenſchaft im Koͤrper nicht
weſentlich von der ſie urſpruͤnglich veranlaſſenden materiel-
len aͤußern Empfindung verurſachet, mithin kann ſie auch
der aͤußere ſinnliche Eindruck dieſer Empfindung unmoͤg-
lich, weder als Seelenwirkung noch als Nervenwirkung,
weſentlich, und nach den bloßen Geſetzen der Nervenkraͤfte
hervorbringen. §. 98. N. 3. Ein Beyſpiel wird dieſes
erklaͤren. Jemand ſieht einen Menſchen, der ſeinem ver-
ſtorbenen Freunde aͤhnlich iſt. Dieß iſt die erſte aͤußere
Empfindung, wovon alles Folgende bis zur Leidenſchaft
abhaͤngt. Nach den pſychologiſchen Geſetzen der Vorſtel-
lungskraft erkennt die Seele dieſe Aehnlichkeit, und dieß
iſt die erſte Zwiſchenvorſtellung, die ſich mit dieſer Em-
pfindung nicht nach den Geſetzen der Nervenkraͤfte verknuͤ-
pfet. Daraus entſteht die Einbildung des verſtorbenen
Freundes, welche mit der Empfindung nur die aͤhnlichen
Merkmale beyder Perſonen gemein hat. Nun erinnert
das Gedaͤchtniß ſich des Todes dieſes Freundes und aller
Umſtaͤnde deſſelben, womit die gegenwaͤrtige Empfindung
nichts mehr gemein hat. Endlich koͤmmt die Vorherſe-
hung dazu, daß der Tod allen kuͤnftigen Umgang mit ihm
aufgehoben habe. Dieſe Vorherſehung iſt unangenehm,
und die Seele bemuͤhet ſich nach pſychologiſchen Geſetzen,
das Gegentheil dieſer unangenehmen Vorſtellung hervor-
zubringen. Jn der Anſtrengung der Vorſtellungskraft,
um dieß zu bewerkſtelligen, beſteht die Leidenſchaft der Trau-
rigkeit, die dieſer Anblick erreget. Was iſt nun wohl aus
der
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