Der Wehrtrieb der Thiere, wodurch sie bewogen werden, sich ihrer natürlichen Waffen in den Gefahren zu bedienen, welchen sie am meisten ausgesetzet sind, ist nichts anders als eine besondre Art des Triebes zu willkührlichen Bewegungen. §. 288. Da nun die Seelenwirkungen des letztern durch bloße Nervenwirkungen vollkommen ersetzet werden können, §. 555 -- 557. so sind auch die Seelen- wirkungen des Wehrtriebes davon nicht ausgenommen. Eben dieselben äußern sinnlichen Eindrücke, welche, wenn sie ein Thier empfindet, durch die Erregung seines Wehr- triebes gewisse thierische Bewegungen als seine Seelenwir- kungen veranlassen, bringen auch wenn sie nicht empfun- den werden, und den Trieb unmöglich erregen können, eben dieselben thierischen Bewegungen hervor. Wenn man den Bauch eines Ohrwurms schmerzlich berühret, so erhebt er die äußerste Spitze desselben, thut seine Zangen auf und kneipt sie fest wieder zusammen, um, wie es scheint, sich zu wehren. Jst dieß in diesem Falle wirklich die Seelen- wirkung seines Wehrtriebes, so kann sie es unmöglich seyn, wenn der Bauch vom übrigen Körper völlig abgeschnitten ist, und dennoch machen die Zangen von eben denselben Berührungen desselben eben dieselben thierischen Bewegun- gen. Man glaubt, daß es eine Seelenwirkung des Wehr- triebes sey, wenn die Bienen, die man ergreift, ihren Stachel ausstecken, um zn stechen. Unstreitig ist es eine bloße Nervenwirkung, wenn es ein ergriffener Bienenbauch ebenfalls thut, den man vom übrigen Körper abgeschnit- ten hat. Ein Pferd, dem eine Canonenkugel den Kopf genommen, schlägt, wenn es hingestürzet ist, eben so hin- ter sich aus, wie es durch seinen Wehrtrieb zu thun pflegt, wenn es ein andrer Zufall niederstürzet. Eine abgebro- chene Hummerscheere kneipt, wenn ihr Fleisch gereizet wird, eben so, als ob der Wehrtrieb in sie wirkete; und so bestä- tigen es noch viel hundert andre Erfahrungen unwider- sprechlich, daß auch die Seelenwirkungen des Wehrtriebes
von
II Th. Nervenkr. 4 K. Verh. zu den th. Seelenkr.
§. 559.
Der Wehrtrieb der Thiere, wodurch ſie bewogen werden, ſich ihrer natuͤrlichen Waffen in den Gefahren zu bedienen, welchen ſie am meiſten ausgeſetzet ſind, iſt nichts anders als eine beſondre Art des Triebes zu willkuͤhrlichen Bewegungen. §. 288. Da nun die Seelenwirkungen des letztern durch bloße Nervenwirkungen vollkommen erſetzet werden koͤnnen, §. 555 — 557. ſo ſind auch die Seelen- wirkungen des Wehrtriebes davon nicht ausgenommen. Eben dieſelben aͤußern ſinnlichen Eindruͤcke, welche, wenn ſie ein Thier empfindet, durch die Erregung ſeines Wehr- triebes gewiſſe thieriſche Bewegungen als ſeine Seelenwir- kungen veranlaſſen, bringen auch wenn ſie nicht empfun- den werden, und den Trieb unmoͤglich erregen koͤnnen, eben dieſelben thieriſchen Bewegungen hervor. Wenn man den Bauch eines Ohrwurms ſchmerzlich beruͤhret, ſo erhebt er die aͤußerſte Spitze deſſelben, thut ſeine Zangen auf und kneipt ſie feſt wieder zuſammen, um, wie es ſcheint, ſich zu wehren. Jſt dieß in dieſem Falle wirklich die Seelen- wirkung ſeines Wehrtriebes, ſo kann ſie es unmoͤglich ſeyn, wenn der Bauch vom uͤbrigen Koͤrper voͤllig abgeſchnitten iſt, und dennoch machen die Zangen von eben denſelben Beruͤhrungen deſſelben eben dieſelben thieriſchen Bewegun- gen. Man glaubt, daß es eine Seelenwirkung des Wehr- triebes ſey, wenn die Bienen, die man ergreift, ihren Stachel ausſtecken, um zn ſtechen. Unſtreitig iſt es eine bloße Nervenwirkung, wenn es ein ergriffener Bienenbauch ebenfalls thut, den man vom uͤbrigen Koͤrper abgeſchnit- ten hat. Ein Pferd, dem eine Canonenkugel den Kopf genommen, ſchlaͤgt, wenn es hingeſtuͤrzet iſt, eben ſo hin- ter ſich aus, wie es durch ſeinen Wehrtrieb zu thun pflegt, wenn es ein andrer Zufall niederſtuͤrzet. Eine abgebro- chene Hummerſcheere kneipt, wenn ihr Fleiſch gereizet wird, eben ſo, als ob der Wehrtrieb in ſie wirkete; und ſo beſtaͤ- tigen es noch viel hundert andre Erfahrungen unwider- ſprechlich, daß auch die Seelenwirkungen des Wehrtriebes
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II Th. Nervenkr. 4 K. Verh. zu den th. Seelenkr.
§. 559.
Der Wehrtrieb der Thiere, wodurch ſie bewogen
werden, ſich ihrer natuͤrlichen Waffen in den Gefahren zu
bedienen, welchen ſie am meiſten ausgeſetzet ſind, iſt nichts
anders als eine beſondre Art des Triebes zu willkuͤhrlichen
Bewegungen. §. 288. Da nun die Seelenwirkungen des
letztern durch bloße Nervenwirkungen vollkommen erſetzet
werden koͤnnen, §. 555 — 557. ſo ſind auch die Seelen-
wirkungen des Wehrtriebes davon nicht ausgenommen.
Eben dieſelben aͤußern ſinnlichen Eindruͤcke, welche, wenn
ſie ein Thier empfindet, durch die Erregung ſeines Wehr-
triebes gewiſſe thieriſche Bewegungen als ſeine Seelenwir-
kungen veranlaſſen, bringen auch wenn ſie nicht empfun-
den werden, und den Trieb unmoͤglich erregen koͤnnen, eben
dieſelben thieriſchen Bewegungen hervor. Wenn man
den Bauch eines Ohrwurms ſchmerzlich beruͤhret, ſo erhebt
er die aͤußerſte Spitze deſſelben, thut ſeine Zangen auf und
kneipt ſie feſt wieder zuſammen, um, wie es ſcheint, ſich
zu wehren. Jſt dieß in dieſem Falle wirklich die Seelen-
wirkung ſeines Wehrtriebes, ſo kann ſie es unmoͤglich ſeyn,
wenn der Bauch vom uͤbrigen Koͤrper voͤllig abgeſchnitten
iſt, und dennoch machen die Zangen von eben denſelben
Beruͤhrungen deſſelben eben dieſelben thieriſchen Bewegun-
gen. Man glaubt, daß es eine Seelenwirkung des Wehr-
triebes ſey, wenn die Bienen, die man ergreift, ihren
Stachel ausſtecken, um zn ſtechen. Unſtreitig iſt es eine
bloße Nervenwirkung, wenn es ein ergriffener Bienenbauch
ebenfalls thut, den man vom uͤbrigen Koͤrper abgeſchnit-
ten hat. Ein Pferd, dem eine Canonenkugel den Kopf
genommen, ſchlaͤgt, wenn es hingeſtuͤrzet iſt, eben ſo hin-
ter ſich aus, wie es durch ſeinen Wehrtrieb zu thun pflegt,
wenn es ein andrer Zufall niederſtuͤrzet. Eine abgebro-
chene Hummerſcheere kneipt, wenn ihr Fleiſch gereizet wird,
eben ſo, als ob der Wehrtrieb in ſie wirkete; und ſo beſtaͤ-
tigen es noch viel hundert andre Erfahrungen unwider-
ſprechlich, daß auch die Seelenwirkungen des Wehrtriebes
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Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771, S. 560. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771/584>, abgerufen am 23.11.2024.
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