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Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771.

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der Affektentriebe.
theils nur zufälliger Weise, gar nicht periodisch, noch durch
einen uns ganz unbekannten natürlichen Zwang, sondern
mit dem Bewußtseyn der sinnlichen Triebfedern, die uns
reizen, und willkührlicher in Affekt; wir könnten die sinn-
lichen Reizungen oft meiden, oft entkräften, wenn wirs be-
liebten, um der Leidenschaft vorzubeugen; wir können sie
hingegen auch selbst suchen und stärken, um uns in Affekt
zu setzen. Jm Laufe der Leidenschaft selbst haben wir et-
was mehr Macht, um sie willkührlich zu vermehren oder
zu vermindern, und mehr Mittel sie zu entkräften, ohne daß
sie befriediget werden müßte, als bey den Trieben, weil wir
ihren Gegenstand erkennen, und willkührlich für oder wi-
der ihn handeln können. So hat es z. E. ein Zorniger
weit mehr in seiner Gewalt, seine Leidenschaft zu entkräf-
ten, ohne sich zu rächen, als ein Hungriger, seinen Trieb
zu stillen, ohne sich zu sättigen; und so kann jener die Ver-
anlassungen zum Zorne, wenn er nur will, oft vermeiden,
dahingegen der Hunger natürlich nothwendiger Weise ent-
steht, sobald sich seine Veranlassung, ohne unser Wissen,
im Magen erzeuget. Hierbey ist aber zu merken, daß die
Leidenschaften sehr oft nicht ursprüngliche, sondern solche
sind, welche durch sinnliche Triebe in uns erreget werden,
und diese stehen allerdings noch unter dem Zwange der
Triebe. Man kann sie füglich Affektentriebe nennen,
und es ist nothwendig, ihre Natur genauer kennen zu
lernen.

§. 297.

Der ganze Unterschied der Triebe von den Leidenschaf-
ten besteht darinn, daß die Thiere sich der sinnlichen Trieb-
federn, die sie reizen, bey den Trieben nicht, hingegen bey
den Leidenschaften allerdings bewußt sind. §. 90. 91. Eben
darum stehen in den Trieben ihre Begierden so wenig in ih-
rer Gewalt, weil sie das nicht kennen, was sie dazu reizet,
sondern es in sich wirken lassen müssen, wie es ihnen die
Natur hingiebt: denn ob sie nun gleich mancherley eigen-

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der Affektentriebe.
theils nur zufaͤlliger Weiſe, gar nicht periodiſch, noch durch
einen uns ganz unbekannten natuͤrlichen Zwang, ſondern
mit dem Bewußtſeyn der ſinnlichen Triebfedern, die uns
reizen, und willkuͤhrlicher in Affekt; wir koͤnnten die ſinn-
lichen Reizungen oft meiden, oft entkraͤften, wenn wirs be-
liebten, um der Leidenſchaft vorzubeugen; wir koͤnnen ſie
hingegen auch ſelbſt ſuchen und ſtaͤrken, um uns in Affekt
zu ſetzen. Jm Laufe der Leidenſchaft ſelbſt haben wir et-
was mehr Macht, um ſie willkuͤhrlich zu vermehren oder
zu vermindern, und mehr Mittel ſie zu entkraͤften, ohne daß
ſie befriediget werden muͤßte, als bey den Trieben, weil wir
ihren Gegenſtand erkennen, und willkuͤhrlich fuͤr oder wi-
der ihn handeln koͤnnen. So hat es z. E. ein Zorniger
weit mehr in ſeiner Gewalt, ſeine Leidenſchaft zu entkraͤf-
ten, ohne ſich zu raͤchen, als ein Hungriger, ſeinen Trieb
zu ſtillen, ohne ſich zu ſaͤttigen; und ſo kann jener die Ver-
anlaſſungen zum Zorne, wenn er nur will, oft vermeiden,
dahingegen der Hunger natuͤrlich nothwendiger Weiſe ent-
ſteht, ſobald ſich ſeine Veranlaſſung, ohne unſer Wiſſen,
im Magen erzeuget. Hierbey iſt aber zu merken, daß die
Leidenſchaften ſehr oft nicht urſpruͤngliche, ſondern ſolche
ſind, welche durch ſinnliche Triebe in uns erreget werden,
und dieſe ſtehen allerdings noch unter dem Zwange der
Triebe. Man kann ſie fuͤglich Affektentriebe nennen,
und es iſt nothwendig, ihre Natur genauer kennen zu
lernen.

§. 297.

Der ganze Unterſchied der Triebe von den Leidenſchaf-
ten beſteht darinn, daß die Thiere ſich der ſinnlichen Trieb-
federn, die ſie reizen, bey den Trieben nicht, hingegen bey
den Leidenſchaften allerdings bewußt ſind. §. 90. 91. Eben
darum ſtehen in den Trieben ihre Begierden ſo wenig in ih-
rer Gewalt, weil ſie das nicht kennen, was ſie dazu reizet,
ſondern es in ſich wirken laſſen muͤſſen, wie es ihnen die
Natur hingiebt: denn ob ſie nun gleich mancherley eigen-

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[291/0315] der Affektentriebe. theils nur zufaͤlliger Weiſe, gar nicht periodiſch, noch durch einen uns ganz unbekannten natuͤrlichen Zwang, ſondern mit dem Bewußtſeyn der ſinnlichen Triebfedern, die uns reizen, und willkuͤhrlicher in Affekt; wir koͤnnten die ſinn- lichen Reizungen oft meiden, oft entkraͤften, wenn wirs be- liebten, um der Leidenſchaft vorzubeugen; wir koͤnnen ſie hingegen auch ſelbſt ſuchen und ſtaͤrken, um uns in Affekt zu ſetzen. Jm Laufe der Leidenſchaft ſelbſt haben wir et- was mehr Macht, um ſie willkuͤhrlich zu vermehren oder zu vermindern, und mehr Mittel ſie zu entkraͤften, ohne daß ſie befriediget werden muͤßte, als bey den Trieben, weil wir ihren Gegenſtand erkennen, und willkuͤhrlich fuͤr oder wi- der ihn handeln koͤnnen. So hat es z. E. ein Zorniger weit mehr in ſeiner Gewalt, ſeine Leidenſchaft zu entkraͤf- ten, ohne ſich zu raͤchen, als ein Hungriger, ſeinen Trieb zu ſtillen, ohne ſich zu ſaͤttigen; und ſo kann jener die Ver- anlaſſungen zum Zorne, wenn er nur will, oft vermeiden, dahingegen der Hunger natuͤrlich nothwendiger Weiſe ent- ſteht, ſobald ſich ſeine Veranlaſſung, ohne unſer Wiſſen, im Magen erzeuget. Hierbey iſt aber zu merken, daß die Leidenſchaften ſehr oft nicht urſpruͤngliche, ſondern ſolche ſind, welche durch ſinnliche Triebe in uns erreget werden, und dieſe ſtehen allerdings noch unter dem Zwange der Triebe. Man kann ſie fuͤglich Affektentriebe nennen, und es iſt nothwendig, ihre Natur genauer kennen zu lernen. §. 297. Der ganze Unterſchied der Triebe von den Leidenſchaf- ten beſteht darinn, daß die Thiere ſich der ſinnlichen Trieb- federn, die ſie reizen, bey den Trieben nicht, hingegen bey den Leidenſchaften allerdings bewußt ſind. §. 90. 91. Eben darum ſtehen in den Trieben ihre Begierden ſo wenig in ih- rer Gewalt, weil ſie das nicht kennen, was ſie dazu reizet, ſondern es in ſich wirken laſſen muͤſſen, wie es ihnen die Natur hingiebt: denn ob ſie nun gleich mancherley eigen- maͤch- T 2

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Zitationshilfe: Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771/315>, abgerufen am 21.11.2024.