Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treviranus, Gottfried Reinhold: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte. Bd. 6. Göttingen, 1822.

Bild:
<< vorherige Seite

Wie die Einbildungskraft die Bilder der Ver-
gangenheit reproducirt, so schafft sie auch die
der Gegenwart. Dass wir den letztern Objek-
tivität beylegen, hat seinen Grund in dem
durch eigene Organe vermittelten Ursprung der-
selben. Aber bey dieser Entstehung ist doch Al-
les, was sich als Gemeinschaftliches der Vorstel-
lung mit dem vorgestellten Gegenstande nach-
weisen lässt, blos Gleichheit der Bilder bey
Gleichheit der äussern Eindrücke. Die Seele
sieht nicht das Gemählde auf der Netzhaut wie
der Zuschauer die Gestalten in der Camera ob-
scura, empfängt nicht die Vorstellung des Schalls
von den zitternden Bewegungen des Labyrinth-
wassers wie der Zuhörer von den Schwingungen
der Saiten einer Zitter. Oft treten selbst Phan-
tome vor den innern Sinn, die allen Schein der
Objektivität haben und welchen dennoch nichts
Objektives entspricht. Ein Trugbild beschied
den Brutus zum Wiedersehen bey Philippi;
mit einem Trugbilde unterhielt sich Tasso im
Kerker. Warum waren diese und ähnliche Er-
scheinungen Täuschungen? Doch nur, weil die
Vernunft in ihnen die Gesetze der Succession
und der Causalität nicht erkannte, unter welchen
alle Erscheinungen der Sinnenwelt stehen. Also
nur Verstandesbegriffe unterscheiden Wirklichkei-
ten von Truggestalten. Jene sind nicht minder
als diese Erzeugnisse der schaffenden Einbil-

dungs-

Wie die Einbildungskraft die Bilder der Ver-
gangenheit reproducirt, so schafft sie auch die
der Gegenwart. Daſs wir den letztern Objek-
tivität beylegen, hat seinen Grund in dem
durch eigene Organe vermittelten Ursprung der-
selben. Aber bey dieser Entstehung ist doch Al-
les, was sich als Gemeinschaftliches der Vorstel-
lung mit dem vorgestellten Gegenstande nach-
weisen läſst, blos Gleichheit der Bilder bey
Gleichheit der äuſsern Eindrücke. Die Seele
sieht nicht das Gemählde auf der Netzhaut wie
der Zuschauer die Gestalten in der Camera ob-
scura, empfängt nicht die Vorstellung des Schalls
von den zitternden Bewegungen des Labyrinth-
wassers wie der Zuhörer von den Schwingungen
der Saiten einer Zitter. Oft treten selbst Phan-
tome vor den innern Sinn, die allen Schein der
Objektivität haben und welchen dennoch nichts
Objektives entspricht. Ein Trugbild beschied
den Brutus zum Wiedersehen bey Philippi;
mit einem Trugbilde unterhielt sich Tasso im
Kerker. Warum waren diese und ähnliche Er-
scheinungen Täuschungen? Doch nur, weil die
Vernunft in ihnen die Gesetze der Succession
und der Causalität nicht erkannte, unter welchen
alle Erscheinungen der Sinnenwelt stehen. Also
nur Verstandesbegriffe unterscheiden Wirklichkei-
ten von Truggestalten. Jene sind nicht minder
als diese Erzeugnisse der schaffenden Einbil-

dungs-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0054" n="42"/>
            <p>Wie die Einbildungskraft die Bilder der Ver-<lb/>
gangenheit reproducirt, so schafft sie auch die<lb/>
der Gegenwart. Da&#x017F;s wir den letztern Objek-<lb/>
tivität beylegen, hat seinen Grund in dem<lb/>
durch eigene Organe vermittelten Ursprung der-<lb/>
selben. Aber bey dieser Entstehung ist doch Al-<lb/>
les, was sich als Gemeinschaftliches der Vorstel-<lb/>
lung mit dem vorgestellten Gegenstande nach-<lb/>
weisen lä&#x017F;st, blos Gleichheit der Bilder bey<lb/>
Gleichheit der äu&#x017F;sern Eindrücke. Die Seele<lb/>
sieht nicht das Gemählde auf der Netzhaut wie<lb/>
der Zuschauer die Gestalten in der Camera ob-<lb/>
scura, empfängt nicht die Vorstellung des Schalls<lb/>
von den zitternden Bewegungen des Labyrinth-<lb/>
wassers wie der Zuhörer von den Schwingungen<lb/>
der Saiten einer Zitter. Oft treten selbst Phan-<lb/>
tome vor den innern Sinn, die allen Schein der<lb/>
Objektivität haben und welchen dennoch nichts<lb/>
Objektives entspricht. Ein Trugbild beschied<lb/>
den Brutus zum Wiedersehen bey Philippi;<lb/>
mit einem Trugbilde unterhielt sich Tasso im<lb/>
Kerker. Warum waren diese und ähnliche Er-<lb/>
scheinungen Täuschungen? Doch nur, weil die<lb/>
Vernunft in ihnen die Gesetze der Succession<lb/>
und der Causalität nicht erkannte, unter welchen<lb/>
alle Erscheinungen der Sinnenwelt stehen. Also<lb/>
nur Verstandesbegriffe unterscheiden Wirklichkei-<lb/>
ten von Truggestalten. Jene sind nicht minder<lb/>
als diese Erzeugnisse der schaffenden Einbil-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">dungs-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[42/0054] Wie die Einbildungskraft die Bilder der Ver- gangenheit reproducirt, so schafft sie auch die der Gegenwart. Daſs wir den letztern Objek- tivität beylegen, hat seinen Grund in dem durch eigene Organe vermittelten Ursprung der- selben. Aber bey dieser Entstehung ist doch Al- les, was sich als Gemeinschaftliches der Vorstel- lung mit dem vorgestellten Gegenstande nach- weisen läſst, blos Gleichheit der Bilder bey Gleichheit der äuſsern Eindrücke. Die Seele sieht nicht das Gemählde auf der Netzhaut wie der Zuschauer die Gestalten in der Camera ob- scura, empfängt nicht die Vorstellung des Schalls von den zitternden Bewegungen des Labyrinth- wassers wie der Zuhörer von den Schwingungen der Saiten einer Zitter. Oft treten selbst Phan- tome vor den innern Sinn, die allen Schein der Objektivität haben und welchen dennoch nichts Objektives entspricht. Ein Trugbild beschied den Brutus zum Wiedersehen bey Philippi; mit einem Trugbilde unterhielt sich Tasso im Kerker. Warum waren diese und ähnliche Er- scheinungen Täuschungen? Doch nur, weil die Vernunft in ihnen die Gesetze der Succession und der Causalität nicht erkannte, unter welchen alle Erscheinungen der Sinnenwelt stehen. Also nur Verstandesbegriffe unterscheiden Wirklichkei- ten von Truggestalten. Jene sind nicht minder als diese Erzeugnisse der schaffenden Einbil- dungs-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treviranus_biologie06_1822
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treviranus_biologie06_1822/54
Zitationshilfe: Treviranus, Gottfried Reinhold: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte. Bd. 6. Göttingen, 1822, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treviranus_biologie06_1822/54>, abgerufen am 03.05.2024.