beurtheilen zu können, oder von Anatomen, die zwar angeben konnten, was sie am Leichnam gefunden hatten, um die vorhergegangene Krank- heit aber nur vom Hörensagen wussten. Die letztere wurde auch, so weit sie den Geistes- und Gemüthszustand des Kranken betraf, von den praktischen Aerzten selten mit der nöthigen Aufmerksamkeit beobachtet. Man begnügte sich mit der Bemerkung, und konnte freylich in vie- len Fällen auch nicht mehr bemerken, als dass der Kranke nach einer schweren Verletzung des Gehirns fortfuhr, sich vernünftig zu benehmen und in Betreff der Gegenstände des alltäglichen Lebens keinen Mangel an Gedächtniss zu ver- rathen. Wie sich sein Erinnerungsvermögen in Hinsicht auf Dinge, die ausser seinem gewöhnli- chen Kreise lagen, wie sich seine Einbildungs- kraft vor und während der Krankheit verhielt, blieb unbestimmt und liess sich selten bestim- men. Meist endigte sich auch die Krankheit früher mit dem Tode, ehe Beobachtungen über den Einfluss des Physischen auf das Geistige möglich waren. Alle Organe, deren Funktionen nicht blos mechanischer Art sind, ertragen fer- ner beträchtliche Verletzungen ohne plötzlichen Stillstand des regelmässigen Ganges ihrer Ver- richtungen. Es lässt sich vermuthen, dass unter gewissen Umständen das Gehirn um so mehr bedeutende Zerrüttungen ohne schnelle Unter-
brechung
beurtheilen zu können, oder von Anatomen, die zwar angeben konnten, was sie am Leichnam gefunden hatten, um die vorhergegangene Krank- heit aber nur vom Hörensagen wuſsten. Die letztere wurde auch, so weit sie den Geistes- und Gemüthszustand des Kranken betraf, von den praktischen Aerzten selten mit der nöthigen Aufmerksamkeit beobachtet. Man begnügte sich mit der Bemerkung, und konnte freylich in vie- len Fällen auch nicht mehr bemerken, als daſs der Kranke nach einer schweren Verletzung des Gehirns fortfuhr, sich vernünftig zu benehmen und in Betreff der Gegenstände des alltäglichen Lebens keinen Mangel an Gedächtniſs zu ver- rathen. Wie sich sein Erinnerungsvermögen in Hinsicht auf Dinge, die auſser seinem gewöhnli- chen Kreise lagen, wie sich seine Einbildungs- kraft vor und während der Krankheit verhielt, blieb unbestimmt und lieſs sich selten bestim- men. Meist endigte sich auch die Krankheit früher mit dem Tode, ehe Beobachtungen über den Einfluſs des Physischen auf das Geistige möglich waren. Alle Organe, deren Funktionen nicht blos mechanischer Art sind, ertragen fer- ner beträchtliche Verletzungen ohne plötzlichen Stillstand des regelmäſsigen Ganges ihrer Ver- richtungen. Es läſst sich vermuthen, daſs unter gewissen Umständen das Gehirn um so mehr bedeutende Zerrüttungen ohne schnelle Unter-
brechung
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beurtheilen zu können, oder von Anatomen, die
zwar angeben konnten, was sie am Leichnam
gefunden hatten, um die vorhergegangene Krank-
heit aber nur vom Hörensagen wuſsten. Die
letztere wurde auch, so weit sie den Geistes-
und Gemüthszustand des Kranken betraf, von
den praktischen Aerzten selten mit der nöthigen
Aufmerksamkeit beobachtet. Man begnügte sich
mit der Bemerkung, und konnte freylich in vie-
len Fällen auch nicht mehr bemerken, als daſs
der Kranke nach einer schweren Verletzung des
Gehirns fortfuhr, sich vernünftig zu benehmen
und in Betreff der Gegenstände des alltäglichen
Lebens keinen Mangel an Gedächtniſs zu ver-
rathen. Wie sich sein Erinnerungsvermögen in
Hinsicht auf Dinge, die auſser seinem gewöhnli-
chen Kreise lagen, wie sich seine Einbildungs-
kraft vor und während der Krankheit verhielt,
blieb unbestimmt und lieſs sich selten bestim-
men. Meist endigte sich auch die Krankheit
früher mit dem Tode, ehe Beobachtungen über
den Einfluſs des Physischen auf das Geistige
möglich waren. Alle Organe, deren Funktionen
nicht blos mechanischer Art sind, ertragen fer-
ner beträchtliche Verletzungen ohne plötzlichen
Stillstand des regelmäſsigen Ganges ihrer Ver-
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gewissen Umständen das Gehirn um so mehr
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Treviranus, Gottfried Reinhold: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte. Bd. 6. Göttingen, 1822, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treviranus_biologie06_1822/128>, abgerufen am 30.11.2024.
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