thierischen Natur, weil das Grundgesetz aller au- tomatischen Bewegungen, dass jeder Wirkung eine Reitzung vorhergegangen seyn muss, auf sie nicht allgemein anwendbar ist. Welcher Reitz ist es, der den Vogel zum Bau seines Nestes und zum Brüten, die Biene zur Anlegung ihrer Zellen, die Spinne zur Verfertigung ihres Gewebes treibt? Man kann nach der Analogie des Begattungs- und Nahrungstriebes annehmen, dass so wie von diesen der Reitz gewisser, abgesonderter Säfte die erregende Ursache ist, so auch innere Reitze jene Kunsttriebe rege machen. Aber die Absonderung der Säfte wird durch den Einfluss des Nerven- systems vermittelt. Hat man nicht eben so viel Grund, die Nerventhätigkeit, welche die Sekretion der gastrischen Säfte und der Zeugungsflüssigkei- ten hervorbringt, für Mitwirkung, als für Ur- sache derjenigen, die sich als Nahrungs- oder Geschlechtstrieb äussert, anzunehmen? Ist nicht vielleicht jeder Trieb eine ungehemmte Thätig- keit des Nervensystems, und zwecken nicht etwa alle instinktartige Handlungen auf diese Hem- mung, nicht aber auf die Entfernung eines Reit- zes ab? Liegt nicht überhaupt in den Aeusserun- gen des Instinkts etwas Wundervolles, aus kei- nem Gesetz der blossen Reitzbarkeit Erklärbares? Woher entsteht bey beyden Geschlechtern der Be- gattungstrieb zu einerley Zeit, und zwar bey beyden, wenn sie auch ganz von einander ge-
trennt
thierischen Natur, weil das Grundgesetz aller au- tomatischen Bewegungen, daſs jeder Wirkung eine Reitzung vorhergegangen seyn muſs, auf sie nicht allgemein anwendbar ist. Welcher Reitz ist es, der den Vogel zum Bau seines Nestes und zum Brüten, die Biene zur Anlegung ihrer Zellen, die Spinne zur Verfertigung ihres Gewebes treibt? Man kann nach der Analogie des Begattungs- und Nahrungstriebes annehmen, daſs so wie von diesen der Reitz gewisser, abgesonderter Säfte die erregende Ursache ist, so auch innere Reitze jene Kunsttriebe rege machen. Aber die Absonderung der Säfte wird durch den Einfluſs des Nerven- systems vermittelt. Hat man nicht eben so viel Grund, die Nerventhätigkeit, welche die Sekretion der gastrischen Säfte und der Zeugungsflüssigkei- ten hervorbringt, für Mitwirkung, als für Ur- sache derjenigen, die sich als Nahrungs- oder Geschlechtstrieb äuſsert, anzunehmen? Ist nicht vielleicht jeder Trieb eine ungehemmte Thätig- keit des Nervensystems, und zwecken nicht etwa alle instinktartige Handlungen auf diese Hem- mung, nicht aber auf die Entfernung eines Reit- zes ab? Liegt nicht überhaupt in den Aeuſserun- gen des Instinkts etwas Wundervolles, aus kei- nem Gesetz der bloſsen Reitzbarkeit Erklärbares? Woher entsteht bey beyden Geschlechtern der Be- gattungstrieb zu einerley Zeit, und zwar bey beyden, wenn sie auch ganz von einander ge-
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thierischen Natur, weil das Grundgesetz aller au-
tomatischen Bewegungen, daſs jeder Wirkung eine
Reitzung vorhergegangen seyn muſs, auf sie nicht
allgemein anwendbar ist. Welcher Reitz ist es,
der den Vogel zum Bau seines Nestes und zum
Brüten, die Biene zur Anlegung ihrer Zellen,
die Spinne zur Verfertigung ihres Gewebes treibt?
Man kann nach der Analogie des Begattungs-
und Nahrungstriebes annehmen, daſs so wie von
diesen der Reitz gewisser, abgesonderter Säfte die
erregende Ursache ist, so auch innere Reitze jene
Kunsttriebe rege machen. Aber die Absonderung
der Säfte wird durch den Einfluſs des Nerven-
systems vermittelt. Hat man nicht eben so viel
Grund, die Nerventhätigkeit, welche die Sekretion
der gastrischen Säfte und der Zeugungsflüssigkei-
ten hervorbringt, für Mitwirkung, als für Ur-
sache derjenigen, die sich als Nahrungs- oder
Geschlechtstrieb äuſsert, anzunehmen? Ist nicht
vielleicht jeder Trieb eine ungehemmte Thätig-
keit des Nervensystems, und zwecken nicht etwa
alle instinktartige Handlungen auf diese Hem-
mung, nicht aber auf die Entfernung eines Reit-
zes ab? Liegt nicht überhaupt in den Aeuſserun-
gen des Instinkts etwas Wundervolles, aus kei-
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Treviranus, Gottfried Reinhold: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte. Bd. 5. Göttingen, 1818, S. 442. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treviranus_biologie05_1818/454>, abgerufen am 23.11.2024.
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