Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treviranus, Gottfried Reinhold: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte. Bd. 1. Göttingen, 1802.

Bild:
<< vorherige Seite

und es noch lange nicht werden kann, sahen wir in
dem vorigen Capitel. Jede auf dogmatischen Grund-
sätzen beruhende medicinische Praxis, das heisst, je-
de medicinische Praxis überhaupt, muss sich also
auf einem Gemisch von Wahrheiten und Irrthümern
stützen, wird gegen eine Anzahl Kranker, die sie
rettet, vielleicht eine eben so grosse aufopfern,
und lässt sich eben deswegen im Allgemeinen
als verwerflich ansehen. Aber mag sie immerhin
im Allgemeinen noch so verwerflich seyn, bey dem
jetzigen Zustande des Menschengeschlechts wird
doch jeder Vernünftige ihre Unentbehrlichkeit ein-
gestehen müssen. Der Leidende sucht Hülfe, und
hierzu treibt ihn nicht kaltes Räsonnement, son-
dern ein unwiderstehlicher Instinkt. Würde auch
alle Medicin ausgerottet, so würde doch dieser
Trieb bleiben, und nur eine grössere Anzahl von
Schlachtopfern würde der kühnen Unwissenheit
überliefert werden. Der Arzt verhütet also wenig-
stens grosse Uebel, wenn er auch nicht viel posi-
tiven Nutzen stiftet, und Aerzte müssen daher
seyn und bleiben, so lange jener süsse Traum, dass
die Erde ein grosser Garten und das Menschenge-
schlecht, entfesselt von den Ketten der Vorurtheile,
des Aberglaubens und der Tyranney, eine Gesell-
schaft von Brüdern und Weisen werden soll, nur
noch ein Traum seyn wird. Ja, auch dann wird
man ihrer nie ganz entbehren können.

Allein

und es noch lange nicht werden kann, sahen wir in
dem vorigen Capitel. Jede auf dogmatischen Grund-
sätzen beruhende medicinische Praxis, das heiſst, je-
de medicinische Praxis überhaupt, muſs sich also
auf einem Gemisch von Wahrheiten und Irrthümern
stützen, wird gegen eine Anzahl Kranker, die sie
rettet, vielleicht eine eben so groſse aufopfern,
und läſst sich eben deswegen im Allgemeinen
als verwerflich ansehen. Aber mag sie immerhin
im Allgemeinen noch so verwerflich seyn, bey dem
jetzigen Zustande des Menschengeschlechts wird
doch jeder Vernünftige ihre Unentbehrlichkeit ein-
gestehen müssen. Der Leidende sucht Hülfe, und
hierzu treibt ihn nicht kaltes Räsonnement, son-
dern ein unwiderstehlicher Instinkt. Würde auch
alle Medicin ausgerottet, so würde doch dieser
Trieb bleiben, und nur eine gröſsere Anzahl von
Schlachtopfern würde der kühnen Unwissenheit
überliefert werden. Der Arzt verhütet also wenig-
stens groſse Uebel, wenn er auch nicht viel posi-
tiven Nutzen stiftet, und Aerzte müssen daher
seyn und bleiben, so lange jener süſse Traum, daſs
die Erde ein groſser Garten und das Menschenge-
schlecht, entfesselt von den Ketten der Vorurtheile,
des Aberglaubens und der Tyranney, eine Gesell-
schaft von Brüdern und Weisen werden soll, nur
noch ein Traum seyn wird. Ja, auch dann wird
man ihrer nie ganz entbehren können.

Allein
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0162" n="142"/>
und es noch lange nicht werden kann, sahen wir in<lb/>
dem vorigen Capitel. Jede auf dogmatischen Grund-<lb/>
sätzen beruhende medicinische Praxis, das hei&#x017F;st, je-<lb/>
de medicinische Praxis überhaupt, mu&#x017F;s sich also<lb/>
auf einem Gemisch von Wahrheiten und Irrthümern<lb/>
stützen, wird gegen eine Anzahl Kranker, die sie<lb/>
rettet, vielleicht eine eben so gro&#x017F;se aufopfern,<lb/>
und lä&#x017F;st sich eben deswegen im <hi rendition="#g">Allgemeinen</hi><lb/>
als verwerflich ansehen. Aber mag sie immerhin<lb/>
im Allgemeinen noch so verwerflich seyn, bey dem<lb/>
jetzigen Zustande des Menschengeschlechts wird<lb/>
doch jeder Vernünftige ihre Unentbehrlichkeit ein-<lb/>
gestehen müssen. Der Leidende sucht Hülfe, und<lb/>
hierzu treibt ihn nicht kaltes Räsonnement, son-<lb/>
dern ein unwiderstehlicher Instinkt. Würde auch<lb/>
alle Medicin ausgerottet, so würde doch dieser<lb/>
Trieb bleiben, und nur eine grö&#x017F;sere Anzahl von<lb/>
Schlachtopfern würde der kühnen Unwissenheit<lb/>
überliefert werden. Der Arzt verhütet also wenig-<lb/>
stens gro&#x017F;se Uebel, wenn er auch nicht viel posi-<lb/>
tiven Nutzen stiftet, und Aerzte müssen daher<lb/>
seyn und bleiben, so lange jener sü&#x017F;se Traum, da&#x017F;s<lb/>
die Erde ein gro&#x017F;ser Garten und das Menschenge-<lb/>
schlecht, entfesselt von den Ketten der Vorurtheile,<lb/>
des Aberglaubens und der Tyranney, eine Gesell-<lb/>
schaft von Brüdern und Weisen werden soll, nur<lb/>
noch ein Traum seyn wird. Ja, auch dann wird<lb/>
man ihrer nie ganz entbehren können.</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">Allein</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[142/0162] und es noch lange nicht werden kann, sahen wir in dem vorigen Capitel. Jede auf dogmatischen Grund- sätzen beruhende medicinische Praxis, das heiſst, je- de medicinische Praxis überhaupt, muſs sich also auf einem Gemisch von Wahrheiten und Irrthümern stützen, wird gegen eine Anzahl Kranker, die sie rettet, vielleicht eine eben so groſse aufopfern, und läſst sich eben deswegen im Allgemeinen als verwerflich ansehen. Aber mag sie immerhin im Allgemeinen noch so verwerflich seyn, bey dem jetzigen Zustande des Menschengeschlechts wird doch jeder Vernünftige ihre Unentbehrlichkeit ein- gestehen müssen. Der Leidende sucht Hülfe, und hierzu treibt ihn nicht kaltes Räsonnement, son- dern ein unwiderstehlicher Instinkt. Würde auch alle Medicin ausgerottet, so würde doch dieser Trieb bleiben, und nur eine gröſsere Anzahl von Schlachtopfern würde der kühnen Unwissenheit überliefert werden. Der Arzt verhütet also wenig- stens groſse Uebel, wenn er auch nicht viel posi- tiven Nutzen stiftet, und Aerzte müssen daher seyn und bleiben, so lange jener süſse Traum, daſs die Erde ein groſser Garten und das Menschenge- schlecht, entfesselt von den Ketten der Vorurtheile, des Aberglaubens und der Tyranney, eine Gesell- schaft von Brüdern und Weisen werden soll, nur noch ein Traum seyn wird. Ja, auch dann wird man ihrer nie ganz entbehren können. Allein

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treviranus_biologie01_1802
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treviranus_biologie01_1802/162
Zitationshilfe: Treviranus, Gottfried Reinhold: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte. Bd. 1. Göttingen, 1802, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treviranus_biologie01_1802/162>, abgerufen am 01.05.2024.