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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 2. Die Kriegsgefahr.
sitzes, Kreta, das wichtige Grenzland Adana sowie die heiligen Stätten
Mekka und Medina dem Sultan auszuliefern, wenn ihm dafür Aegypten
erblich, Syrien auf Lebenszeit zur Verwaltung überlassen würde. Diese
Anerbietungen klangen aus dem Munde des Siegers von Nisib nicht
unbillig; der preußische Hof selbst fand sie befriedigend, doch den anderen
Mächten genügten sie nicht, am wenigsten der Pforte.*) Seit der Sultan
an dem Vierbunde wieder einen Rückhalt besaß, flammte der alte Haß
der Osmanen wider den Aegypter mächtig auf, und im September
wurde Mehemed Ali, auf Lord Ponsonby's Andrängen, durch einen Fer-
man des Großherrn abgesetzt, obgleich der Divan versprochen hatte, nicht
einseitig ohne den Beirath Europas vorzugehen. Eine solche Gewaltthat
konnten die vier Mächte unmöglich billigen; sie mußte ebenso erfolglos
bleiben, wie die Acht welche Sultan Machmud vor acht Jahren über den
ägyptischen Vasallen verhängt hatte. Immerhin bewies sie, daß der Streit
der beiden orientalischen Herrscher nicht ohne Waffengewalt zu schlichten
war. Die Gefahr des allgemeinen Krieges rückte näher.

Wunderbar stark und von nachhaltigem Segen war die Rückwirkung
dieser Ereignisse auf das deutsche Volksleben. Die Deutschen hatten von
den verwickelten Londoner Unterhandlungen nur wenig erfahren und an
die Möglichkeit eines europäischen Krieges kaum gedacht. Es traf sie wie
ein Blitz vom hellen Himmel, als plötzlich bei der Einweihung der Juli-
säule auf dem Bastilleplatze die Marseillaise, diesmal in drohendem Ernst,
erklang und alle französischen Blätter den Feldzug an den Rhein forderten.
Daß Frankreich wegen einiger syrischen Paschaliks die deutsche Westmark
bedrohen wollte, erschien Allen als ein Beweis rasenden Uebermuths, und
sofort antwortete dem gallischen Kriegsgeschrei aus allen Gauen Deutsch-
lands der alte Schlachtruf der Germanen: her, her! Deutschland war
einig in dem Entschlusse, sein altes so glorreich wiedergewonnenes Erb-
theil ritterlich zu behaupten. Die wälschen Ideale des vergangenen Jahr-
zehnts schienen wie weggeblasen, die Heldengestalten von Dennewitz und
Leipzig traten den Deutschen wieder leuchtend vor die Augen; auch die
ästhetische Begeisterung für das schöne Rheinland wirkte mit, die sich wäh-
rend der jüngsten Jahre durch die Bilder der Düsseldorfer und die Lieder
der letzten Romantiker in weiten Kreisen verbre'tet hatte. In jedem an-
deren Volke hätte sich ein solcher Entschluß von selbst verstanden; den
Deutschen aber traute das Ausland nationalen Stolz nicht zu, und un-
geheuer war der Eindruck, als hier plötzlich, ganz frei und naturwüchsig,
an hundert Stellen zugleich der Volkszorn seine mächtige Stimme erhob.
Man fühlte überall: diese Empfindung war tiefer, mächtiger als die
Kriegsbegeisterung der Franzosen, die freilich auch aus dem Herzen kam,

*) Thiers, Weisung an Bresson in Berlin, 27. Sept. Minister Werther, Bericht
an den König, 23. Sept. 1840.

V. 2. Die Kriegsgefahr.
ſitzes, Kreta, das wichtige Grenzland Adana ſowie die heiligen Stätten
Mekka und Medina dem Sultan auszuliefern, wenn ihm dafür Aegypten
erblich, Syrien auf Lebenszeit zur Verwaltung überlaſſen würde. Dieſe
Anerbietungen klangen aus dem Munde des Siegers von Niſib nicht
unbillig; der preußiſche Hof ſelbſt fand ſie befriedigend, doch den anderen
Mächten genügten ſie nicht, am wenigſten der Pforte.*) Seit der Sultan
an dem Vierbunde wieder einen Rückhalt beſaß, flammte der alte Haß
der Osmanen wider den Aegypter mächtig auf, und im September
wurde Mehemed Ali, auf Lord Ponſonby’s Andrängen, durch einen Fer-
man des Großherrn abgeſetzt, obgleich der Divan verſprochen hatte, nicht
einſeitig ohne den Beirath Europas vorzugehen. Eine ſolche Gewaltthat
konnten die vier Mächte unmöglich billigen; ſie mußte ebenſo erfolglos
bleiben, wie die Acht welche Sultan Machmud vor acht Jahren über den
ägyptiſchen Vaſallen verhängt hatte. Immerhin bewies ſie, daß der Streit
der beiden orientaliſchen Herrſcher nicht ohne Waffengewalt zu ſchlichten
war. Die Gefahr des allgemeinen Krieges rückte näher.

Wunderbar ſtark und von nachhaltigem Segen war die Rückwirkung
dieſer Ereigniſſe auf das deutſche Volksleben. Die Deutſchen hatten von
den verwickelten Londoner Unterhandlungen nur wenig erfahren und an
die Möglichkeit eines europäiſchen Krieges kaum gedacht. Es traf ſie wie
ein Blitz vom hellen Himmel, als plötzlich bei der Einweihung der Juli-
ſäule auf dem Baſtilleplatze die Marſeillaiſe, diesmal in drohendem Ernſt,
erklang und alle franzöſiſchen Blätter den Feldzug an den Rhein forderten.
Daß Frankreich wegen einiger ſyriſchen Paſchaliks die deutſche Weſtmark
bedrohen wollte, erſchien Allen als ein Beweis raſenden Uebermuths, und
ſofort antwortete dem galliſchen Kriegsgeſchrei aus allen Gauen Deutſch-
lands der alte Schlachtruf der Germanen: her, her! Deutſchland war
einig in dem Entſchluſſe, ſein altes ſo glorreich wiedergewonnenes Erb-
theil ritterlich zu behaupten. Die wälſchen Ideale des vergangenen Jahr-
zehnts ſchienen wie weggeblaſen, die Heldengeſtalten von Dennewitz und
Leipzig traten den Deutſchen wieder leuchtend vor die Augen; auch die
äſthetiſche Begeiſterung für das ſchöne Rheinland wirkte mit, die ſich wäh-
rend der jüngſten Jahre durch die Bilder der Düſſeldorfer und die Lieder
der letzten Romantiker in weiten Kreiſen verbre’tet hatte. In jedem an-
deren Volke hätte ſich ein ſolcher Entſchluß von ſelbſt verſtanden; den
Deutſchen aber traute das Ausland nationalen Stolz nicht zu, und un-
geheuer war der Eindruck, als hier plötzlich, ganz frei und naturwüchſig,
an hundert Stellen zugleich der Volkszorn ſeine mächtige Stimme erhob.
Man fühlte überall: dieſe Empfindung war tiefer, mächtiger als die
Kriegsbegeiſterung der Franzoſen, die freilich auch aus dem Herzen kam,

*) Thiers, Weiſung an Breſſon in Berlin, 27. Sept. Miniſter Werther, Bericht
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[84/0098] V. 2. Die Kriegsgefahr. ſitzes, Kreta, das wichtige Grenzland Adana ſowie die heiligen Stätten Mekka und Medina dem Sultan auszuliefern, wenn ihm dafür Aegypten erblich, Syrien auf Lebenszeit zur Verwaltung überlaſſen würde. Dieſe Anerbietungen klangen aus dem Munde des Siegers von Niſib nicht unbillig; der preußiſche Hof ſelbſt fand ſie befriedigend, doch den anderen Mächten genügten ſie nicht, am wenigſten der Pforte. *) Seit der Sultan an dem Vierbunde wieder einen Rückhalt beſaß, flammte der alte Haß der Osmanen wider den Aegypter mächtig auf, und im September wurde Mehemed Ali, auf Lord Ponſonby’s Andrängen, durch einen Fer- man des Großherrn abgeſetzt, obgleich der Divan verſprochen hatte, nicht einſeitig ohne den Beirath Europas vorzugehen. Eine ſolche Gewaltthat konnten die vier Mächte unmöglich billigen; ſie mußte ebenſo erfolglos bleiben, wie die Acht welche Sultan Machmud vor acht Jahren über den ägyptiſchen Vaſallen verhängt hatte. Immerhin bewies ſie, daß der Streit der beiden orientaliſchen Herrſcher nicht ohne Waffengewalt zu ſchlichten war. Die Gefahr des allgemeinen Krieges rückte näher. Wunderbar ſtark und von nachhaltigem Segen war die Rückwirkung dieſer Ereigniſſe auf das deutſche Volksleben. Die Deutſchen hatten von den verwickelten Londoner Unterhandlungen nur wenig erfahren und an die Möglichkeit eines europäiſchen Krieges kaum gedacht. Es traf ſie wie ein Blitz vom hellen Himmel, als plötzlich bei der Einweihung der Juli- ſäule auf dem Baſtilleplatze die Marſeillaiſe, diesmal in drohendem Ernſt, erklang und alle franzöſiſchen Blätter den Feldzug an den Rhein forderten. Daß Frankreich wegen einiger ſyriſchen Paſchaliks die deutſche Weſtmark bedrohen wollte, erſchien Allen als ein Beweis raſenden Uebermuths, und ſofort antwortete dem galliſchen Kriegsgeſchrei aus allen Gauen Deutſch- lands der alte Schlachtruf der Germanen: her, her! Deutſchland war einig in dem Entſchluſſe, ſein altes ſo glorreich wiedergewonnenes Erb- theil ritterlich zu behaupten. Die wälſchen Ideale des vergangenen Jahr- zehnts ſchienen wie weggeblaſen, die Heldengeſtalten von Dennewitz und Leipzig traten den Deutſchen wieder leuchtend vor die Augen; auch die äſthetiſche Begeiſterung für das ſchöne Rheinland wirkte mit, die ſich wäh- rend der jüngſten Jahre durch die Bilder der Düſſeldorfer und die Lieder der letzten Romantiker in weiten Kreiſen verbre’tet hatte. In jedem an- deren Volke hätte ſich ein ſolcher Entſchluß von ſelbſt verſtanden; den Deutſchen aber traute das Ausland nationalen Stolz nicht zu, und un- geheuer war der Eindruck, als hier plötzlich, ganz frei und naturwüchſig, an hundert Stellen zugleich der Volkszorn ſeine mächtige Stimme erhob. Man fühlte überall: dieſe Empfindung war tiefer, mächtiger als die Kriegsbegeiſterung der Franzoſen, die freilich auch aus dem Herzen kam, *) Thiers, Weiſung an Breſſon in Berlin, 27. Sept. Miniſter Werther, Bericht an den König, 23. Sept. 1840.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/98>, abgerufen am 23.11.2024.