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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 10. Vorboten der europäischen Revolution.
verneur General Pfuel bekleidete sein jetzt so wichtig gewordenes Amt
noch immer nur als ein Nebenamt neben seinem westphälischen Com-
mando und kam nur von Zeit zu Zeit herüber. Er sah seit Jahren
richtig voraus, daß eine Versöhnung mit den fanatischen Luzerner Ultra-
montanen unmöglich, eine Katastrophe unvermeidlich war,*) und konnte
sich doch als Liberaler kein Herz fassen zu den conservativen Royalisten.
Canitz aber lebte, wie sein König, ganz in den Berechnungen einer großen
europäischen Restaurationspolitik, und über solchen erhabenen Plänen ver-
gaß er das Nächste, die militärische Sicherung des gefährdeten Landes.
Schon seit Jahren hatten die beiden deutschen Großmächte über einen
möglichen Einmarsch preußischer Truppen hin und her verhandelt; Metter-
nich aber kam immer wieder zurück auf den überklugen Satz: eines großen
Krieges sind diese 80,000 Neuenburger nicht werth, und ein kleines Corps
hilft doch nichts.**) So unterblieb denn jede Rüstung; für die friedens-
selige Politik dieses Königs war das Wort nicht geschrieben, daß um der
Ehre willen selbst eines Strohhalms Breite verfochten werden muß.

Die Neutralität des Cantons ließ sich von Rechtswegen gar nicht
anfechten, sie ward auch von den altehrwürdigen Communalverbänden
des Landes, den vier Bourgeoisien gut geheißen mit der feierlichen Er-
klärung, daß man sich von dem angestammten Fürstenhause niemals
trennen wolle. Zur Theilnahme an einem Bürgerkriege, bei dem beide
Theile das Recht offenbar verletzten, durfte der Fürst von Neuenburg
rechtlich nie gezwungen werden; jetzt hieß es einfach: Noth kennt kein Gebot.
Eine Neutralität aber, die nicht durch die Waffen geschützt wird, ist lächer-
lich, völkerrechtswidrig, eines Königs unwürdig. Und wie leicht konnte
Friedrich Wilhelm, falls er nur die Augen offen hielt, seine Fürstenpflicht
erfüllen! Wenn er seine Neuchateller Gardeschützen mit noch einigen an-
deren Bataillonen rechtzeitig bereit hielt und im Augenblicke der Neutra-
litäts-Erklärung alsbald einrücken ließ, dann war er seines unbestreitbaren
Rechtes vollkommen sicher; er konnte dann je nach Umständen entweder sein
Fürstenthum wieder in die freiere Stellung eines zugewandten Orts zurück-
treten lassen oder sich der neuen demokratisirten Bundesverfassung der Eid-
genossen anschließen -- was unter einigen Vorbehalten wohl möglich war,
da der Fürst in Neuenburg ja nur sehr bescheidene Rechte ausübte. Die
befreundeten Höfe von Darmstadt und Karlsruhe mußten seinen Truppen,
wenn er es ernstlich verlangte, den Durchzug unweigerlich gestatten; nur
weil Preußen nicht kräftig auftrat, zeigte sich auch Baden ängstlich. Selbst
Frankreich, das unter anderen Umständen die Anwesenheit preußischer
Truppen dicht vor seiner Grenze wohl ungern gesehen hätte, war als er-
klärter Feind der Zwölfermehrheit jetzt nicht im Stande zu widersprechen.

*) Pfuel's Bericht an den König, 25. Juni 1845.
**) Canitz's Berichte, 5. März 1845 ff.

V. 10. Vorboten der europäiſchen Revolution.
verneur General Pfuel bekleidete ſein jetzt ſo wichtig gewordenes Amt
noch immer nur als ein Nebenamt neben ſeinem weſtphäliſchen Com-
mando und kam nur von Zeit zu Zeit herüber. Er ſah ſeit Jahren
richtig voraus, daß eine Verſöhnung mit den fanatiſchen Luzerner Ultra-
montanen unmöglich, eine Kataſtrophe unvermeidlich war,*) und konnte
ſich doch als Liberaler kein Herz faſſen zu den conſervativen Royaliſten.
Canitz aber lebte, wie ſein König, ganz in den Berechnungen einer großen
europäiſchen Reſtaurationspolitik, und über ſolchen erhabenen Plänen ver-
gaß er das Nächſte, die militäriſche Sicherung des gefährdeten Landes.
Schon ſeit Jahren hatten die beiden deutſchen Großmächte über einen
möglichen Einmarſch preußiſcher Truppen hin und her verhandelt; Metter-
nich aber kam immer wieder zurück auf den überklugen Satz: eines großen
Krieges ſind dieſe 80,000 Neuenburger nicht werth, und ein kleines Corps
hilft doch nichts.**) So unterblieb denn jede Rüſtung; für die friedens-
ſelige Politik dieſes Königs war das Wort nicht geſchrieben, daß um der
Ehre willen ſelbſt eines Strohhalms Breite verfochten werden muß.

Die Neutralität des Cantons ließ ſich von Rechtswegen gar nicht
anfechten, ſie ward auch von den altehrwürdigen Communalverbänden
des Landes, den vier Bourgeoiſien gut geheißen mit der feierlichen Er-
klärung, daß man ſich von dem angeſtammten Fürſtenhauſe niemals
trennen wolle. Zur Theilnahme an einem Bürgerkriege, bei dem beide
Theile das Recht offenbar verletzten, durfte der Fürſt von Neuenburg
rechtlich nie gezwungen werden; jetzt hieß es einfach: Noth kennt kein Gebot.
Eine Neutralität aber, die nicht durch die Waffen geſchützt wird, iſt lächer-
lich, völkerrechtswidrig, eines Königs unwürdig. Und wie leicht konnte
Friedrich Wilhelm, falls er nur die Augen offen hielt, ſeine Fürſtenpflicht
erfüllen! Wenn er ſeine Neuchateller Gardeſchützen mit noch einigen an-
deren Bataillonen rechtzeitig bereit hielt und im Augenblicke der Neutra-
litäts-Erklärung alsbald einrücken ließ, dann war er ſeines unbeſtreitbaren
Rechtes vollkommen ſicher; er konnte dann je nach Umſtänden entweder ſein
Fürſtenthum wieder in die freiere Stellung eines zugewandten Orts zurück-
treten laſſen oder ſich der neuen demokratiſirten Bundesverfaſſung der Eid-
genoſſen anſchließen — was unter einigen Vorbehalten wohl möglich war,
da der Fürſt in Neuenburg ja nur ſehr beſcheidene Rechte ausübte. Die
befreundeten Höfe von Darmſtadt und Karlsruhe mußten ſeinen Truppen,
wenn er es ernſtlich verlangte, den Durchzug unweigerlich geſtatten; nur
weil Preußen nicht kräftig auftrat, zeigte ſich auch Baden ängſtlich. Selbſt
Frankreich, das unter anderen Umſtänden die Anweſenheit preußiſcher
Truppen dicht vor ſeiner Grenze wohl ungern geſehen hätte, war als er-
klärter Feind der Zwölfermehrheit jetzt nicht im Stande zu widerſprechen.

*) Pfuel’s Bericht an den König, 25. Juni 1845.
**) Canitz’s Berichte, 5. März 1845 ff.
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[736/0750] V. 10. Vorboten der europäiſchen Revolution. verneur General Pfuel bekleidete ſein jetzt ſo wichtig gewordenes Amt noch immer nur als ein Nebenamt neben ſeinem weſtphäliſchen Com- mando und kam nur von Zeit zu Zeit herüber. Er ſah ſeit Jahren richtig voraus, daß eine Verſöhnung mit den fanatiſchen Luzerner Ultra- montanen unmöglich, eine Kataſtrophe unvermeidlich war, *) und konnte ſich doch als Liberaler kein Herz faſſen zu den conſervativen Royaliſten. Canitz aber lebte, wie ſein König, ganz in den Berechnungen einer großen europäiſchen Reſtaurationspolitik, und über ſolchen erhabenen Plänen ver- gaß er das Nächſte, die militäriſche Sicherung des gefährdeten Landes. Schon ſeit Jahren hatten die beiden deutſchen Großmächte über einen möglichen Einmarſch preußiſcher Truppen hin und her verhandelt; Metter- nich aber kam immer wieder zurück auf den überklugen Satz: eines großen Krieges ſind dieſe 80,000 Neuenburger nicht werth, und ein kleines Corps hilft doch nichts. **) So unterblieb denn jede Rüſtung; für die friedens- ſelige Politik dieſes Königs war das Wort nicht geſchrieben, daß um der Ehre willen ſelbſt eines Strohhalms Breite verfochten werden muß. Die Neutralität des Cantons ließ ſich von Rechtswegen gar nicht anfechten, ſie ward auch von den altehrwürdigen Communalverbänden des Landes, den vier Bourgeoiſien gut geheißen mit der feierlichen Er- klärung, daß man ſich von dem angeſtammten Fürſtenhauſe niemals trennen wolle. Zur Theilnahme an einem Bürgerkriege, bei dem beide Theile das Recht offenbar verletzten, durfte der Fürſt von Neuenburg rechtlich nie gezwungen werden; jetzt hieß es einfach: Noth kennt kein Gebot. Eine Neutralität aber, die nicht durch die Waffen geſchützt wird, iſt lächer- lich, völkerrechtswidrig, eines Königs unwürdig. Und wie leicht konnte Friedrich Wilhelm, falls er nur die Augen offen hielt, ſeine Fürſtenpflicht erfüllen! Wenn er ſeine Neuchateller Gardeſchützen mit noch einigen an- deren Bataillonen rechtzeitig bereit hielt und im Augenblicke der Neutra- litäts-Erklärung alsbald einrücken ließ, dann war er ſeines unbeſtreitbaren Rechtes vollkommen ſicher; er konnte dann je nach Umſtänden entweder ſein Fürſtenthum wieder in die freiere Stellung eines zugewandten Orts zurück- treten laſſen oder ſich der neuen demokratiſirten Bundesverfaſſung der Eid- genoſſen anſchließen — was unter einigen Vorbehalten wohl möglich war, da der Fürſt in Neuenburg ja nur ſehr beſcheidene Rechte ausübte. Die befreundeten Höfe von Darmſtadt und Karlsruhe mußten ſeinen Truppen, wenn er es ernſtlich verlangte, den Durchzug unweigerlich geſtatten; nur weil Preußen nicht kräftig auftrat, zeigte ſich auch Baden ängſtlich. Selbſt Frankreich, das unter anderen Umſtänden die Anweſenheit preußiſcher Truppen dicht vor ſeiner Grenze wohl ungern geſehen hätte, war als er- klärter Feind der Zwölfermehrheit jetzt nicht im Stande zu widerſprechen. *) Pfuel’s Bericht an den König, 25. Juni 1845. **) Canitz’s Berichte, 5. März 1845 ff.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 736. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/750>, abgerufen am 22.11.2024.