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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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Flottwell's Sturz.

Inzwischen begannen Poninski's Königsberger Rede und die Beschwer-
den des Grafen Raczynski ihre Frucht zu tragen. Raczynski verbreitete
unter dem polnischen Adel eine Bittschrift, welche seine mündlichen Aeuße-
rungen wiederholte, und sendete zugleich dem Monarchen die Belege für
seine Klagen.*) Poninski aber, der bei der Huldigung den Grafentitel
und mannichfache Gnadenbeweise erhalten hatte, bezeigte seinen Dank,
indem er an der Spitze von fünfzehn anderen polnischen Edelleuten dem
Minister Rochow die unglaubliche Zumuthung stellte: der zu Recht besteh-
ende Posener Landtag müsse aufgelöst werden, damit bei den Neuwahlen
auch die soeben begnadigten Hochverräther aus den dreißiger Jahren mit-
wirken könnten.**)

Ueber diese polnischen Wirren wurde im Staatsministerium während
der drei letzten Monate des Jahres gründlich verhandelt. General Grolman
und Oberpräsident Flottwell erstatteten mit gewohntem Freimuth einen aus-
führlichen Bericht: nur der Adel und der Clerus seien feindlich gesinnt,
die polnischen Bauern zufrieden, die Deutschen, die schon zwei Fünftel der
Bevölkerung ausmachten, unverbrüchlich treu. Der Thronwechsel habe jedoch
bei den Polen unsinnige Hoffnungen erweckt, welche durch die Triumphreisen
des begnadigten Erzbischofs und sicherlich auch durch die Pariser Propaganda
geflissentlich genährt würden. Dem gegenüber müsse das bewährte System
der "allmählichen Germanisirung" unerschütterlich aufrecht bleiben. Dem-
nach baten sie den Monarchen, die Beschwerden des polnischen Adels rund-
weg abzuweisen und sodann, kraft seines königlichen Rechtes, dem nächsten
Posener Landtage zu befehlen, daß diese erledigte Sache nicht wieder be-
rührt werden dürfe. Aus vollem Herzen stimmte der greise Stägemann
den Beiden zu. In einer Denkschrift, die er wenige Tage vor seinem
Tode abfaßte, billigte er namentlich den durch die Regierung betriebenen
Ankauf polnischer Rittergüter und sagte mit seinem alten Markmannen-
stolze kurzab: man möge den Klagenden nur eröffnen, "daß ihre Ger-
manisirung beabsichtigt werde", und sie an den Treubruch des Jahres
1830 erinnern. Selbst General Thile konnte nicht umhin, mit einigen
Vorbehalten, sich den Beiden anzuschließen. Wie durfte man auch im
Ernst von einem Sprachenzwange in Posen reden? Die Verwaltungs-
behörden schrieben an Polen deutsch, aber mit beigelegter polnischer Ueber-
setzung. Vor Gericht wurden die Processe in der Sprache des Klägers
verhandelt; nur wenn er des Deutschen vollkommen mächtig war verlangte
man, daß er sich der deutschen Sprache bediente; denn da die Polen sich dem
Staatsdienste fern hielten, so konnten von 168 Richtern nur 54 fertig
polnisch sprechen; ihrer 33 verstanden nur wenig, 81 gar kein polnisch.***)


*) Raczynski, Eingabe an den König, 27. Nov. 1840.
**) Rochow, Bericht an den König, 12. Dec. 1840.
***) Stägemann, Denkschrift über Posen. Nov. 1840. Die übrigen Denkschriften
s. o. V. 47.
Flottwell’s Sturz.

Inzwiſchen begannen Poninski’s Königsberger Rede und die Beſchwer-
den des Grafen Raczynski ihre Frucht zu tragen. Raczynski verbreitete
unter dem polniſchen Adel eine Bittſchrift, welche ſeine mündlichen Aeuße-
rungen wiederholte, und ſendete zugleich dem Monarchen die Belege für
ſeine Klagen.*) Poninski aber, der bei der Huldigung den Grafentitel
und mannichfache Gnadenbeweiſe erhalten hatte, bezeigte ſeinen Dank,
indem er an der Spitze von fünfzehn anderen polniſchen Edelleuten dem
Miniſter Rochow die unglaubliche Zumuthung ſtellte: der zu Recht beſteh-
ende Poſener Landtag müſſe aufgelöſt werden, damit bei den Neuwahlen
auch die ſoeben begnadigten Hochverräther aus den dreißiger Jahren mit-
wirken könnten.**)

Ueber dieſe polniſchen Wirren wurde im Staatsminiſterium während
der drei letzten Monate des Jahres gründlich verhandelt. General Grolman
und Oberpräſident Flottwell erſtatteten mit gewohntem Freimuth einen aus-
führlichen Bericht: nur der Adel und der Clerus ſeien feindlich geſinnt,
die polniſchen Bauern zufrieden, die Deutſchen, die ſchon zwei Fünftel der
Bevölkerung ausmachten, unverbrüchlich treu. Der Thronwechſel habe jedoch
bei den Polen unſinnige Hoffnungen erweckt, welche durch die Triumphreiſen
des begnadigten Erzbiſchofs und ſicherlich auch durch die Pariſer Propaganda
gefliſſentlich genährt würden. Dem gegenüber müſſe das bewährte Syſtem
der „allmählichen Germaniſirung“ unerſchütterlich aufrecht bleiben. Dem-
nach baten ſie den Monarchen, die Beſchwerden des polniſchen Adels rund-
weg abzuweiſen und ſodann, kraft ſeines königlichen Rechtes, dem nächſten
Poſener Landtage zu befehlen, daß dieſe erledigte Sache nicht wieder be-
rührt werden dürfe. Aus vollem Herzen ſtimmte der greiſe Stägemann
den Beiden zu. In einer Denkſchrift, die er wenige Tage vor ſeinem
Tode abfaßte, billigte er namentlich den durch die Regierung betriebenen
Ankauf polniſcher Rittergüter und ſagte mit ſeinem alten Markmannen-
ſtolze kurzab: man möge den Klagenden nur eröffnen, „daß ihre Ger-
maniſirung beabſichtigt werde“, und ſie an den Treubruch des Jahres
1830 erinnern. Selbſt General Thile konnte nicht umhin, mit einigen
Vorbehalten, ſich den Beiden anzuſchließen. Wie durfte man auch im
Ernſt von einem Sprachenzwange in Poſen reden? Die Verwaltungs-
behörden ſchrieben an Polen deutſch, aber mit beigelegter polniſcher Ueber-
ſetzung. Vor Gericht wurden die Proceſſe in der Sprache des Klägers
verhandelt; nur wenn er des Deutſchen vollkommen mächtig war verlangte
man, daß er ſich der deutſchen Sprache bediente; denn da die Polen ſich dem
Staatsdienſte fern hielten, ſo konnten von 168 Richtern nur 54 fertig
polniſch ſprechen; ihrer 33 verſtanden nur wenig, 81 gar kein polniſch.***)


*) Raczynski, Eingabe an den König, 27. Nov. 1840.
**) Rochow, Bericht an den König, 12. Dec. 1840.
***) Stägemann, Denkſchrift über Poſen. Nov. 1840. Die übrigen Denkſchriften
ſ. o. V. 47.
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[59/0073] Flottwell’s Sturz. Inzwiſchen begannen Poninski’s Königsberger Rede und die Beſchwer- den des Grafen Raczynski ihre Frucht zu tragen. Raczynski verbreitete unter dem polniſchen Adel eine Bittſchrift, welche ſeine mündlichen Aeuße- rungen wiederholte, und ſendete zugleich dem Monarchen die Belege für ſeine Klagen. *) Poninski aber, der bei der Huldigung den Grafentitel und mannichfache Gnadenbeweiſe erhalten hatte, bezeigte ſeinen Dank, indem er an der Spitze von fünfzehn anderen polniſchen Edelleuten dem Miniſter Rochow die unglaubliche Zumuthung ſtellte: der zu Recht beſteh- ende Poſener Landtag müſſe aufgelöſt werden, damit bei den Neuwahlen auch die ſoeben begnadigten Hochverräther aus den dreißiger Jahren mit- wirken könnten. **) Ueber dieſe polniſchen Wirren wurde im Staatsminiſterium während der drei letzten Monate des Jahres gründlich verhandelt. General Grolman und Oberpräſident Flottwell erſtatteten mit gewohntem Freimuth einen aus- führlichen Bericht: nur der Adel und der Clerus ſeien feindlich geſinnt, die polniſchen Bauern zufrieden, die Deutſchen, die ſchon zwei Fünftel der Bevölkerung ausmachten, unverbrüchlich treu. Der Thronwechſel habe jedoch bei den Polen unſinnige Hoffnungen erweckt, welche durch die Triumphreiſen des begnadigten Erzbiſchofs und ſicherlich auch durch die Pariſer Propaganda gefliſſentlich genährt würden. Dem gegenüber müſſe das bewährte Syſtem der „allmählichen Germaniſirung“ unerſchütterlich aufrecht bleiben. Dem- nach baten ſie den Monarchen, die Beſchwerden des polniſchen Adels rund- weg abzuweiſen und ſodann, kraft ſeines königlichen Rechtes, dem nächſten Poſener Landtage zu befehlen, daß dieſe erledigte Sache nicht wieder be- rührt werden dürfe. Aus vollem Herzen ſtimmte der greiſe Stägemann den Beiden zu. In einer Denkſchrift, die er wenige Tage vor ſeinem Tode abfaßte, billigte er namentlich den durch die Regierung betriebenen Ankauf polniſcher Rittergüter und ſagte mit ſeinem alten Markmannen- ſtolze kurzab: man möge den Klagenden nur eröffnen, „daß ihre Ger- maniſirung beabſichtigt werde“, und ſie an den Treubruch des Jahres 1830 erinnern. Selbſt General Thile konnte nicht umhin, mit einigen Vorbehalten, ſich den Beiden anzuſchließen. Wie durfte man auch im Ernſt von einem Sprachenzwange in Poſen reden? Die Verwaltungs- behörden ſchrieben an Polen deutſch, aber mit beigelegter polniſcher Ueber- ſetzung. Vor Gericht wurden die Proceſſe in der Sprache des Klägers verhandelt; nur wenn er des Deutſchen vollkommen mächtig war verlangte man, daß er ſich der deutſchen Sprache bediente; denn da die Polen ſich dem Staatsdienſte fern hielten, ſo konnten von 168 Richtern nur 54 fertig polniſch ſprechen; ihrer 33 verſtanden nur wenig, 81 gar kein polniſch. ***) *) Raczynski, Eingabe an den König, 27. Nov. 1840. **) Rochow, Bericht an den König, 12. Dec. 1840. ***) Stägemann, Denkſchrift über Poſen. Nov. 1840. Die übrigen Denkſchriften ſ. o. V. 47.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/73>, abgerufen am 23.11.2024.